Starautorin Donna Leon:
"Brunetti altert nicht"

Ab 26. Mai ermittelt er bei Diogenes seinen 30. Fall. News sprach mit seiner Schöpferin über ihren Kriminalisten, die Wiederkehr der Kreuzfahrtschiffe, das Verschwinden der Katzen aus der Lagunenstadt und Venedig in Zeiten von Corona

von Starautorin Donna Leon:
"Brunetti altert nicht" © Bild: imago/alterphotos
Donna Leon wurde am 28. September 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Sie unterrichtete Englisch an Universitäten in China, Saudi-Arabien und im Iran. 1992 erschien Brunettis erster Fall, "Death at La Fenice" ("Venezianisches Finale"). Die ARD verfilmte 26 Folgen, erst mit Joachim Król, dann mit Uwe Kockisch. Donna Leon lebte einige Jahre in Venedig und seit rund 14 Jahren in einem Dorf in Graubünden in der Schweiz.

Bald drei Jahrzehnte ist es her, dass Commissario Brunetti in unser Leben trat. 1992 war das, und im Teatro La Fenice wurde ein an Karajan erinnernder Dirigent mit Gift vom Pult befördert. In der außerlitera rischen Realität brannte das Opernhaus vier Jahre später ab und wurde 2003 wiedereröffnet.

Da war Brunetti längst als Serienermittler in Venedig etabliert und seine Schöpferin, die Amerikanerin Donna Leon, eine der gefragtesten Kriminalschriftstellerinnen Europas. Mehr als zehn Jahre lebte sie in Venedig, bis ihr der immer stärkere Ansturm der Touristen zu viel wurde und sie in die Schweiz übersiedelte.

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Ihr Kommissar aber blieb und sah mit Fortüne nach dem Rechten, bis zur englischen "Times" lobte man seine Schöpferin für ihre Eleganz. Am 26. Mai erscheint bei Diogenes Brunettis 30. Fall. News erreichte Donna Leon in ihrem Schweizer Domizil in Graubünden.

Wie kamen Sie durch dieses düstere Jahr?
Mit meinen 78 Jahren wurde ich schon im Februar geimpft. Aber voriges Jahr, Anfang März, wäre ich fast in New York hängen geblieben. Ich hatte eine Lesereise zugesagt, weil ich eine Aufführung von Händels "Agrippina" mit Joyce DiDonato an der Metropolitan Opera sehen wollte, und dann brach das Virus aus. Die Vorstellung habe ich gerade noch gesehen, und sie war grandios. Aber einen Termin musste ich leider absagen.

Hatten Sie denn keine Angst, sich anzustecken?
Ich bin kein Spieler, ich setze nicht auf Pferde, aber ich betrachte diese Situation wie ein Gambler. Ich überlegte, wie wahrscheinlich es ist, dass ich dieses Virus bekommen könnte. Das Risiko war gering, denn ich bin so vorsichtig, wie ich nur sein kann. Ich sagte mir, wenn ich am falschen Ort mit der falschen Person bin, dann könnte ich mich anstecken.

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Und wenn ich das Virus bekomme, dann bekomme ich es. Ich bin gesund und würde daher hoffentlich einen leichten Verlauf haben. Aber ich beschloss, solchen Sorgen gar keinen Platz in meinem Kopf einzuräumen. Ich habe das Glück, dass ich ein Haus in den Schweizer Bergen habe. In das Dorf hier kommen nicht viele Menschen. Wir waren gesegnet, denn unter den 350 Einwohnern gab es in den vergangenen eineinhalb Jahren einen, höchstens zwei Fälle.

Ist es nicht auch ein Segen, dass Sie in dieser Zeit der Pandemie nicht mehr in Venedig leben?
In dieser Zeit war auch Venedig ein guter Ort. Ich kenne niemanden dort, der krank geworden ist, denn die Leute, die ich kenne, sind alle sehr vorsichtig. Und niemand kam in die Stadt. Die Touristen blieben weg. So wurde Venedig wieder, was es einmal war. Freunde schickten mir während der Pandemie Fotos. Am stärksten hat mich eines vom Canal Grande beeindruckt: Einer meiner Freunde fuhr mit seiner Gondel ganz weit hinaus und fotografierte die Stadt. Da war nichts, keine Boote, keine Vögel, nichts. Es war seltsam, dieses Foto hätte auch vor hundert Jahren aufgenommen werden können.

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Stimmt es, dass jetzt Delfine in der Lagune sind?
Eine Freundin erzählte mir davon, aber sie lebt sehr weit draußen, in der Nähe von Castello. Und jetzt sind die Touristen zurück. Manche tragen keine Masken, es gibt wieder ein Gedränge in den Gassen, die Boote sind überfüllt, es ist alles wieder ganz so wie vor zwei Jahren.

Nicht verändert hat sich auch Ihr Commissario Brunetti. "Flüchtiges Begehren" ist sein 30. Fall, und er kommt mir vor wie Mickey Maus: Nach 30 Jahren ist er nicht gealtert, seine Kinder sind noch immer Teenager
Im wirklichen Leben müssten die jetzt bald an die 40 sein. Als ich das erste Buch schrieb, dachte ich nicht einmal daran, einen Hinweis zu geben, wann das spielt. Das Weltgeschehen betrifft meine Bücher nicht. Es wird kein Politiker beim Namen genannt, kein Bürgermeister, keine historische Begebenheit, was auch immer passiert, auch die Twin Towers brechen nicht ein.

Flüchtiges Begehren: Commissario Brunettis dreißigster Fall*

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Ich habe schon früh beschlossen, dass meine Geschichten in einer zeitlosen Gegenwart stattfinden. Vielleicht tat ich das unbewusst. Aber so ist es einfacher, in diesen unbestimmten Zeiten weiterzuschreiben. Meine Bücher können genauso in den Achtziger-oder Neunzigerjahren spielen wie in den 2020er-Jahren.

In den ersten Romanen konnte er aber noch kein Handy haben.
Ich selber habe zum Beispiel immer noch keins und ich will auch keines, denn ich sehe, was das mit den Leuten macht. Und da ich keine Kinder habe, gibt es niemanden, der mich erreichen muss. Was nun Brunetti betrifft, eine kleine Veränderung gibt es doch. Erinnern Sie sich, wie die Kinder im ersten Buch an seine Tür klopfen, weil er zu lange duscht und zu viel Wasser verbraucht?

»In den vergangenen zehn Jahren erklärte die Regierung, dass Kreuzfahrtschiffe verboten werden. Wir, die Venedig kennen, lachen nur noch darüber«

Daran erinnert sich Brunetti auch im aktuellen Buch, als er eine Dusche nimmt. Aber jetzt ist das kein Scherz mehr. Er ist sich, wie wir doch auch, immer mehr bewusst geworden, dass es den Klimawandel gibt.

Warum will Brunetti in diesem Roman aber nichts mehr gegen Kreuzfahrtschiffe sagen? Hat er resigniert? Oder dürfen wirklich keine Schiffe mehr in der Lagune anlegen?
In den vergangenen zehn Jahren gab es mindestens zehn Presseaussendungen, in denen die Regierung erklärt hat, dass der Verkehr der Kreuzfahrtschiffe in Venedig gestoppt wird. Nur die Ausländer haben das geglaubt. Wir, die Venedig kennen, lachen darüber nur noch. Denn die Schiffe kommen immer wieder. Glauben Sie diese Lügen nicht.

© imago/alterphotos

In Ihrem Roman liest man, dass ein Katzendomizil
aufgelöst wurde. Bei meinem Venedig-Besuch vor ein paar Jahren hatte ich den Eindruck, dass es immer weniger feline Venezianer gibt. Was ist da passiert?

Als ich in den Sechzigerjahren zum ersten Mal nach Venedig kam, gab es an jeder Straßenecke Katzen. Die waren sehr nützlich, denn sie vertilgten Mäuse und Ratten. Aber irgendwann hat eine Organisation beschlossen, die Streunerkatzen zu kastrieren. Jetzt sieht man immer weniger in den Straßen, aber dafür gibt es wieder Ratten und Mäuse.

Haben Sie Ihren Kater in die Schweiz mitgenommen?
Sie meinen Gastone. Der gehörte meinen Nachbarn aus der unteren Etage. Sie machten ihm zu seinem 20. Geburtstag ein Fest, 50 Gäste kamen aus der Nachbarschaft. Gastone verstarb mit 22 Jahren, als er mit seinen Leuten in Apulien auf Urlaub war. Seit ich hier wohne, kommen regelmäßig ein paar wilde Streunerkatzen zu mir. Ich füttere sie regelmäßig, aber ich darf Ihnen nicht zu nahe kommen.

Sein 30. Fall konfrontiert Brunetti mit einem schlimmen Verbrechen. Welches, soll hier nicht verraten werden. Aber stimmt es, dass "Flüchtiges Begehren" auf einer wahren Geschichte beruht?
Es wurden tatsächlich zwei junge Frauen vor dem Krankenhaus in Venedig gefunden. Das war vor fünf oder sechs Jahren im Sommer. Zwei junge Venezianer hatten zwei junge Frauen zu einer Bootsfahrt eingeladen, ich weiß aber nicht, ob es Amerikanerinnen waren, wie in meinem Roman, oder ob sie aus Kanada waren.

Es war eine heiße Sommernacht, Vollmond Diese jungen Leute hatten nichts Schlimmes vor. Aber dann kollidierte das Boot mit einem Stück Treibholz. Eine der beiden Frauen wurde dabei leicht verletzt. Die Jungs brachten die Frauen zum Krankenhaus und fuhren weg, denn sie hatten Angst vor der Polizei und vor ihren Eltern. Aber für meinen Roman brauchte ich einen starken Grund, warum die zwei in Panik geraten.

Dachten Sie an etwas Besonderes zum 30. Jubiläum?
Nein, sobald ich diese Geschichte mit den beiden Jungs hatte, entwickelte sich alles leicht in meinem Kopf. Ich kenne auch jemanden, der einmal als Schmuggler unterwegs war. Wir haben nie darüber gesprochen, was er wann und wo geschmuggelt hat. Ich glaube, es waren Zigaretten. Dieser Mann hat damit schon vor 20 Jahren aufgehört, aber er gab mir ein paar wichtige Informationen.

Warum wollen Sie nicht, dass Ihre Romane auf Italienisch erscheinen?
Ich habe mir das überlegt. In all diesen Jahren war ich zweimal mit Menschen konfrontiert, die mich fragten, wie ich es wagen könne, solche Dinge über Italien zu schreiben. Ich fragte zurück, welche Dinge sie denn meinten. Und dann warfen sie mir vor, dass ich von Korruption, von Verbrechen und von Gewalttaten in Italien erzähle.


Wenn meine Bücher auf Italienisch herauskämen, müsste ich mir so etwas viel öfter anhören. Aber die Leute, die so etwas sagen, lesen meistens keine Bücher, sie reagieren nur, wenn sie etwas in der Zeitung lesen oder im Fernsehen sehen. Seltsamerweise aber habe ich noch nie einen Italiener getroffen, der meine Bücher in einer anderen Sprache gelesen hat und gegen das protestiert hat, was ich schreibe.

© imago/alterphotos

Denn das ist nichts im Vergleich zu dem, was Italiener schreiben. Lesen Sie doch Gianrico Carofiglio oder Massimo Carlotto. Die italienischen Kriminalschriftsteller schreiben viel wütender über ihr Land als ich.

Aber sie sind eben Italiener. Das ist wie bei Amanda Gormans Gedicht. Eine holländische Übersetzerin wurde von der Agentur abgelehnt, weil sie keine Schwarze ist. Ich frage mich, warum eine Übersetzerin, die früher amerikanische Texte ins Holländische übersetzt hat, das jetzt nicht tun kann. Ich bin aber nicht gegen etwas, sondern mich verwirrt das.

In Amerika wird bei Filmen und Serien auf Diversity großer Wert gelegt. Hat man von Ihnen schon verlangt, Schwarze in Ihre Romane einzubauen?
Schauspieler sind etwas anderes als Romanfiguren. Aber ich kann ihnen von einem "Otello" mit Jon Vickers und Shirley Verrett als Desdemona erzählen, wegen der Konstellation. Ein weißer Tenor sang den Otello und eine Schwarze die Desdemona. Beide, Vickers und Verrett, waren grandios.

Eine schwarze Desdemona ist heute kein Thema, aber viele wollen nur noch einen schwarzen Sänger als Otello engagieren.
Wie man es macht, ist es falsch. Ich bilde mir dazu keine Meinung.

Die neue Korrektheit kommt aber auch in Ihrem Roman vor. Brunetti traut sich nicht einmal mehr, mit einer Kollegin zu scherzen. Wie sehen Sie als gebürtige Amerikanerin dieses Verlangen nach korrektem Umgang miteinander?
Ich lebe doch seit 50 Jahren nicht mehr in Amerika. Dort gibt es auch schon Begriffe, die ich selbst nicht mehr kenne.

Heißt das, dass Sie jetzt Schweizerin sind?
Amerikanerin und Schweizerin, denn ich lebe seit rund 14 Jahren in der Schweiz. Aber meine amerikanische Staatsbürgerschaft würde ich nie aufgeben

»Ich bin erleichtert, dass wir einen Präsidenten haben, der erkennt, dass es den Klimawandel gibt«

Wie gefällt Ihnen Joe Biden, der neue Präsident? Und konnten Sie im Ausland an der amerikanischen Wahl teilnehmen?
Kann ich, und ich bin erleichtert, dass wir einen Präsidenten haben, der erkennt, dass es den Klimawandel gibt, und bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen. Und dass dieser Präsident auch die Welt außerhalb von Washington kennt. Er wirkt sehr sympathisch und sieht Frauen als Menschen an. Ich hoffe, dass er etwas beeinflussen kann. Aber sagen Sie, wann gibt es in Wien wieder eine Barockoper?

Monteverdis "Poppea" kommt an der Staatsoper und Cecilia Bartoli zeigt in Salzburg zu Pfingsten "ll trionfo del Tempo e del Disinganno" von Händel.
Dafür hätte ich sogar eine Karte, aber die musste ich zurückgeben: Ich unterstütze das Barockensemble "Il Pomo d'Oro". Die nehmen an diesem Wochenende ein Album auf. Da muss ich mich um mein Orchester kümmern. Wir sprechen auch über ein Festival. Aber im Sommer werde ich nach Salzburg zu den Festspielen kommen.