Daniel Barenboim, Dirigent des Neujahrskonzerts

Der kämpferische Kosmopolit Daniel Barenboim dirigiert das Neujahrskonzert, das diesmal mit Publikum in eine ungewisse Zukunft führen soll. Ein Gespräch über das Wesen des Walzers, die Idiotie der Cancel Culture, die palästinensische Katastrophe und den alten neuen Antisemitismus

von Daniel Barenboim © Bild: IMAGO / Funke Foto Services

Die Bilder aus dem Vorjahr rauschen noch durch die Gemüter: der menschenleere Zuschauerraum im Goldenen Saal, Musik in der Stille, bizarr unterhoben mit zugespielten Beifallskundgebungen, als wäre es eine amerikanische Platitude aus dem knallkomischen Segment. Und nicht das Neujahrskonzert unter Riccardo Mutis Stabführung, das an diesem in pandemischem Grau versunkenen 1. Jänner 2021 von mehr Menschen gesehen wurde als je zuvor in seiner Geschichte.

Denn auch vom gigantischen wirtschaftlichen Mehrwert als Magnet für den (nunmehr inexistenten) Fremdenverkehr abgesehen, ist dieses Konzert ein Unikum: erfunden anno 1940 unter den abscheulichsten politischen Bedingungen der Geschichte, wurde es zum österreichischen Identitätsstifter.

Und heuer? Wird man nach menschlichem Ermessen vor Publikum spielen, und am Pult steht zum dritten Mal Daniel Barenboim, 79, um den man sich zuletzt sorgte, als der scheinbar Unerschöpfbare nach vier Konzerten mit der Staatskapelle Berlin im Musikverein noch einen Zyklus mit Beethoven-Sonaten hätte fortsetzen sollen, ehe ihn gesundheitliche Probleme zur Rückkehr nach Berlin zwangen.

Dort erreichten wir ihn zum Gespräch, und einen Besseren hätten wir nicht finden können: Barenboim, Sohn russisch-jüdischer Auswanderer, ist spanischer, argentinischer, israelischer und palästinensischer Staatsbürger, ein Kosmopolit und Kritiker der israelischen Palästinenserpolitik. Er hat ein Orchester aus Musikern beider Volksgruppen formiert und lebt in Berlin, während in Europa der Antisemitismus hochkocht.

Maestro, wie geht es Ihnen?
Mir geht es gut, alles, was nicht gut war, ist vorbei.

Sie dirigieren Ihr drittes Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern ...
... und es wird jedes Mal schwerer, das vorzubereiten. Es ist schon etwas sehr Besonderes. Die Musik ist leicht, aber diese Leichtigkeit zu erzeugen, ist keine Selbstverständlichkeit.

© 2017 Hiroyuki Ito/Getty Images EINE GROSSE EINHEIT. Barenboim und die Philharmoniker haben Denkwürdiges geschaffen. In der Staatsoper war er nach einer einmaligen "Walküre"-Serie anno 1996 leider nur mit vier Konzerten am Werk

Was ist denn das Schwere daran?
Nicht zu viel und nicht zu wenig zu machen. Den richtigen Punkt zu finden zwischen der Leichtigkeit und der Art des Spielens. Das Neujahrskonzert ist eine wichtige Aufgabe. Man will damit in dieser Zeit allen Mut machen. Aber vergessen Sie nicht, das ist kein Repertoire, das man jede Woche oder jeden Monat spielt. Ich persönlich liebe es sehr und bin sehr angetan, dass ich es zum dritten Mal machen darf. In einem gewissen Sinn heißt das, wenn ich das richtig verstehe, doch wohl, dass es nicht so schlecht war, was ich bei den anderen beiden gemacht habe.

Kommen wir noch einmal auf diese Leichtigkeit zurück. Wie ist denn das beim Walzer? Sehe ich das richtig, dass da Melancholie und Lebensfreude ganz nah beieinanderliegen?
Das ist nicht nur beim Walzer so, das gibt es auch bei Schubert. Man lacht und weint gleichzeitig. Das ist etwas ganz Spezielles und nicht bei jeder Musik so. Es gibt Musik, die lacht die ganze Zeit, und Musik, die leidet die ganze Zeit. Niemand lacht beim Trauermarsch aus der "Götterdämmerung". Beim Neujahrskonzert aber sind die Stücke ein Lachen und ein Weinen gleichzeitig. Das ist das Tolle an dieser Musik.

Ist das eine österreichische Qualität?
Das würde ich so nicht apodiktisch sagen. Aber in der österreichischen Musik passiert es öfter als anderswo.

Wie sehen Sie denn den Radetzky-Marsch? Im Vorjahr hat man sogar darüber diskutiert, ihn zu streichen. Ruft dieser Marsch nicht auch Bilder von jungen Soldaten hervor, die in den Krieg ziehen? Und das Publikum klatscht im Takt?
Ich halte nichts von solchen Assoziationen in der Musik.

Das erste Neujahrskonzert dirigierte 1940 Clemens Krauss. Es ist eine Erfindung der Nazi-Zeit ...
Ja, schrecklich.

Ändert das etwas an der Einschätzung des Konzerts, an seiner Bedeutung?
Nein, es ändert nichts. Aber wissen soll man es.

»Dann kann man bald nichts mehr spielen. Auch 'Carmen' nicht mehr«

Nun leben wir in der Zeit der Cancel Culture. Das Staatsballett Berlin, das zu einem Drittel auch Ihrem Haus gehört, hat soeben den "Nussknacker" aus dem Programm genommen, weil der chinesische und der orientalische Tanz rassistisch sein sollen. Können Sie so etwas gutheißen?
Nein, das ist nicht richtig. Die Dinge waren zu einer anderen Zeit anders, man muss sie aus einer historischen Perspektive sehen. Wenn wir finden, dass sie künstlerisch schlecht waren, müssen wir damit aufhören. Aber das hat doch nichts mit dem "Nussknacker" zu tun!

Wie ist es mit dem kleinen Mohren im "Rosenkavalier", mit Otello, mit Aida ...
... und mit der "Zauberflöte", in der Monostatos als hässlicher schwarzer Mann bezeichnet wird?

Er klagt, dass er keine Frau findet, "weil ein Schwarzer hässlich ist". Soll man das ändern?
Ich finde es unnötig. Ich habe kein Problem damit, es steht so in der Partitur und hat dort so belassen zu werden. Es wurde in einer Zeit geschrieben, in der etwas möglich war, das heute nicht mehr möglich ist. Auch in "Otello" geht es explizit ums Schwarzsein, das ist, wenn Sie so wollen, eine rassistische Oper, zumindest eine Oper über Rassismus. Wir wären viel ärmer, wenn wir uns nicht mit den Dingen beschäftigten, die uns nicht gefallen. Aber in "Aida", die Sie auch angesprochen haben, geht es überhaupt nicht um Rassismus. Da gibt es kein schlechtes Wort über die Hautfarbe.

Die Covent Garden Opera in London will jetzt das klassische Repertoire nach Unstatthaftem durchforsten ...
Ja, dann kann man bald nichts mehr spielen, auch "Carmen" nicht.

Gar nicht zu reden von den "Meistersingern"!
Die auch nicht, gar nichts mehr.

© Ph.Kaplun-Vigon DOPPELEXISTENZ AN DER WELTSPITZE. Daniel Barenboim ist ein gleichermaßen erstrangiger Pianist wie Dirigent. Seine Unermüdlichkeit auf den Podien nötigt staunende Bewunderung ab

Muss man sich dagegen nicht wehren?
Absolut, ich glaube, diese automatisierte Kritik an Dingen, die uns nicht gefallen, muss aufhören. Das hat mit Kunst, mit Musik, mit den Stücken nichts zu tun. Und deswegen auch nicht mit dem Leben.

Wir erleben gerade einen entsetzlichen Ausbruch des Antisemitismus, und das in drei Ausprägungen: Der alte Nazi-Antisemitismus ist zurück, der linke, wie ihn der frühere Labour-Chef Jeremy Corbyn in England verkörpert, dazu noch ein importierter islamistischer. Hatten Sie gedacht, dass so etwas noch einmal drohen könnte?
Nein. Ich hatte gehofft, dass das nie mehr kommen würde.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass der Antisemitismus wieder so präsent ist?
Nein. Den Antisemitismus kann man nicht erklären. Es gibt viele Erklärungsversuche. Den christlichen Antisemitismus, den europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert, der die Nazi-Zeit vorbereitet hat. Aber man kann den Antisemitismus nicht erklären. Er existiert auch an Orten, wo es keine Juden gibt.

»Der Zionismus war ein Traum. Aber was kam danach? Eine Lüge«

Auch nicht den linken Antisemitismus, der sich als Anti-Israelismus tarnt?
Das ist ein anderes Kapitel, das würde ich nicht vermischen! Hier geht es nicht um links oder rechts, sondern um die israelische Regierung. Sie hat eine bestimmte Politik gemacht und macht sie weiterhin, die geeignet ist, Antisemitismus zu provozieren. Einige israelische Regierungen haben einiges getan, das menschlich nicht akzeptabel ist. Verstehen Sie, ich stehe einigen Aspekten der israelischen Regierungspolitik dezidiert kritisch gegenüber! Der Zionismus hat in Wien mit Theodor Herzl angefangen, als zionistischer Traum, und es war ein wunderbarer Traum für ein Volk, das jahrhundertelang verfolgt war. Jahrhundertelang. Weltweit. Das muss man verstehen. Aber was kam danach? Eine Lüge.

Israels Gründung beruht auf einer Lüge?
Ja. Sie lautete "ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Das ist eine Lüge. Im Ersten Weltkrieg war der Anteil der Juden in Palästina neun Prozent! Wie kann man sagen, das Land war leer, wenn 91 Prozent der dort Lebenden keine Juden waren?

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Das ist ein tiefenpsychologisches Problem: Man hat einen wunderschönen Traum, dann wacht man auf. Und wenn man sich beim Aufwachen ständig belügt, muss man zum Psychiater.

Und wie soll man den mörderischen Konflikt zwischen Israel und Palästina lösen?
Man muss die beiden durch zivilisierte Methoden zusammenbringen, und ganz sicher ist der größte Teil der Verantwortung auf israelischer Seite, weil Israel derjenige war, der die Palästinenser verdrängt hat. Schuld an dem Konflikt sind beide, aber es kann doch nicht sein, dass die Mehrheit in Israel denkt, die Eroberung von Palästina sei etwas Positives! Das ist jetzt 54 Jahre her, und wir können weiterhin aufrechnen, was die Palästinenser alles getan haben. Aber es gibt doch eine, wenn auch winzig kleine Minderheit in Israel, die einsieht, dass das, was man selbst getan hat, nicht richtig ist. Man muss einen Dialog finden! Es ist nicht akzeptabel, dass hier zwei Völker für sich leben wollen, wenn möglich jedes ohne den anderen. Das geht nicht! Dieses Land hat immer unterschiedliche Völker beherbergt.

Sie sind ein großer Pazifist.
Ich bin kein Pazifist. Ich weiß nur, dass das, was die Israelis und die Palästinenser jetzt tun, zur Katastrophe führt. Dazu muss man kein Pazifist sein.

In Ihrem West-Eastern Divan Orchestra spielen junge Musiker aus Israel und Palästina Seite an Seite, damit haben Sie einen unglaublichen Akzent gesetzt. Aber wir erleben hier Flüchtlinge, die in ihrer Heimat Schreckliches erlebt haben und zudem im Judenhass sozialisiert wurden und hier mit Auslöschungsparolen operieren. Gibt es denn einen erklärlichen, zu tolerierenden Antisemitismus?
Absolut nicht. Das ist total inakzeptabel. Und es ist nicht eine Frage von rechts oder links.

Als Donald Trump 2017 die amerikanische Botschaft in Israel nach Jerusalem verlegt hat, haben Sie gefordert, Deutschland solle Palästina als Staat anerkennen. Kann ein Land, in dem es den Holocaust gegeben hat, überhaupt gegen Israel auftreten?
Ja, das kann es. Ich bin Jude, und ich könnte in Deutschland nicht leben, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass sich die meisten Deutschen mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Umso schlimmer ist das, was wir jetzt an den Rändern erleben.

Sie haben die Berliner Staatsoper mehr als 30 Jahre lang zu großem Glanz geführt. Dann hat man Ihnen plötzlich autoritären Führungsstil vorgeworfen. Hat Sie das verletzt?
Nein. Das waren ein paar Journalisten, die das geschrieben haben, und andere haben sie zitiert.

Stimmt es, dass dieser Konflikt nur deshalb entstanden ist, weil sie während einer Probe zwei Musiker nicht bei deren Namen genannt haben, sondern nur die Instrumente? Ist das nicht typisch für die Denunziationskultur unter dem Vorwand der Korrektheit, die sich speziell über das Internet ausbreitet?
Das war alles derart übertrieben, dass ich es nicht einmal kommentieren will. Es ist nicht der Rede wert.

Wie soll es denn aber mit den Orchestern weitergehen, wenn jeder Dirigent, der Qualität einfordert, sofort denunziert wird?
Da müssen Sie keine Angst haben, weder um die Staatskapelle Berlin noch um die Wiener Philharmoniker. Die wissen ganz genau, worum es geht.

Um nochmals zum Anlass des Gesprächs zurückzukommen: Haben Sie im Vorjahr das Neujahrskonzert unter Muti gesehen?
Ja, im Fernsehen.

Und was dachten Sie da beim Anblick des leeren Musikvereinssaals?
Ich dachte: Hoffentlich wird es heuer nicht so sein. Aber das überrascht Sie vermutlich nicht.

ZUR PERSON

Daniel Barenboim ist Dirigent und Pianist. Er wurde am 15. November 1942 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in Buenos Aires geboren, trat mit sieben Jahren erstmals als Pianist auf. 1950 übersiedelte die Familie nach Tel Aviv. Barenboim leitete das Chicago Symphony Orchestra und ist seit 1992 Chef der Berliner Staatsoper unter den Linden. 1999 gründete er das West-Eastern Divan Orchestra. Barenboim ist mit der Pianistin Elena Bashkirova verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne und lebt in Berlin.

DAS NEUJAHRSKONZERT

Die Wiener Philharmoniker spielen Werke von Johann (Vater und Sohn), Eduard und Josef Strauß, Hellmesberger und Ziehrer. Daniel Barenboim, der 1965 seine Zusammenarbeit mit dem Orchester begann, dirigiert sein drittes Neujahrskonzert. ORF 2, die Streamingkanäle myfidelio und medici.tv und Radio Ö1 übertragen am 1. Jänner um 11.15 Uhr.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News Nr. 50/2021 erschienen.