Warum streiten wir im Urlaub?

Emilia und David hatten sich schon so darauf gefreut. Im Urlaub wollten sie alles nachholen, was vorher zu kurz gekommen war. Neben Sommer, Sonne und Entspannung stand für das seit fünf Jahren verheiratete Paar vor allem eines an: ein gigantischer "Nachholbedarf XXL" in Sachen Sex, Kuscheln, aber vor allem Reden. Denkste! Schon vor der Abreise eskalierte ein Streit.

von Liebes Leben - Warum streiten wir im Urlaub? © Bild: Nathan Murrell

Das noch kinderlose Powerpaar hatte sich alles so perfekt vorgestellt. Endlich, endlich, endlich - nach gefühlt zwei Jahren nonstop beruflichem Erfolgskurs wollte man sich was gönnen. Man? Ihre unpersönliche Wortwahl überführt die beiden in ihrer Paartherapie bereits ihrer Abhängigkeit von perfektionistischen Modellvorstellungen, wie Urlaubsglück auszusehen hat. Der perfekte Vorzeigeurlaub sah mindestens so aus: Neben Friede, Freude, Eierkuchen musste im perfekten Urlaub einfach alles klappen. Missverständnisse, Launen & Co. waren unerwünscht und fehl am Platz. Der perfekte Urlaub lief.

Doch entgegen ihrer perfektionistischen Grundhaltung war dann bei diesen beiden alles nur Erdenkliche schiefgelaufen. Zunächst sei da Davids Unachtsamkeit gewesen, seinen viel schwereren Koffer ausgerechnet auf ihren zu wuchten, beklagte Emilia. Das habe ihr schon gezeigt, wie unwichtig ihm nicht nur der Urlaub, sondern vor allem der Urlaub mit ihr war. Wie sonst hätte er so unsensibel sein können?

Und David? Blieb seiner Frau nichts schuldig: Sie habe ihn genötigt, die gesamte Fahrt am Steuer zu sitzen, wo sie sonst immer für Gleichberechtigung sei. Und und und. Die Vorwurfsliste und wechselseitigen Schimpftiraden der beiden nahmen schier kein Ende. In Wahrheit ging es dabei um genau gar nichts, abgesehen von der so genannten Blitzableiter-Funktion, die einmal er, einmal sie in diesem Schlagabtausch einnahm. Im Endeffekt sei der Urlaub statt der gewünschten Qualitätszeit ein Desaster gewesen. Statt zu kuscheln und endlich mal wieder - wie in besseren Zeiten - ihre Sexualität in vollen Zügen zu genießen, seien sie in keinem Punkt ihrer To-do-Liste zum Zug gekommen. In ihrer Paartherapie geht es nun wirklich darum, das Steuer herumzureißen, ehe sie resigniert ihre eigentlich ja glückliche Beziehung versanden lassen. Der Freizeitstress hätte ihrer Liebe beinah das Genick gebrochen.

Aber warum? Waren sie doch im Grunde sorgenfrei und endlich wieder mal ohne Erfolgsdruck für sich allein. Fehlalarm: Der Erfolgsanspruch war vom Job längst auf das Privatleben und, noch schlimmer, das Liebesleben übergegangen. Es gibt keinen Existenzbereich, der nicht von der inneren Zensur der beiden nicht nur kritisch beäugt, sondern sogleich abgeurteilt und abgewertet wird. Als "Innerer Kritiker" wird jener Persönlichkeitsanteil bezeichnet, der in Ihren Gedanken ständig evaluiert, was Sie tun. Ist Ihr "Innerer Kritiker" zu groß geworden, übernimmt er, ohne dass Sie dessen gewahr werden, sehr schnell das Ruder des Daseins. Sie merken es zunächst noch nicht. Aber irgendwann doch, wenn Sie es sich selbst -und es Ihnen auch Ihr Umfeld -nicht Recht machen kann. Höher, schneller, besser, noch zielstrebiger im Alltag -und ruhiger, gelassener, verliebter und noch erholter im Urlaub. Die permanenten Adrenalinausschüttungen und Stresshormone prägen dann Ihr Dasein. Sie sind gereizt und streitlustig, denn unter Höchstleistungs- und Erwartungsdruck lässt sich nicht gut entspannen.

Erholung bringt Paaren wie Emilia und David vor allem die Erkenntnis, dass Schwächen, Macken und die menschliche Unvollkommenheit die unverzichtbare Würze des Lebens - und der Liebe - sind.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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