I want to be in America

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Kurz vor der Landung in Chicago warnte der Pilot scherzhaft, wir sollten alles anziehen, was wir in unserem Handgepäck mitgebracht hätten, die Temperatur zeige minus 20 Grad Celsius. Mit dem Wind gäbe das eine 'wind shield temperature' von etwa minus 30 Grad. Der wartende Taxifahrer stieg nicht aus vor dem Terminal. Er zeigte mit der Hand nach hinten zum Gepäckraum und rief mir zu, er sei offen. Vom überhängenden Dach der Plattform blies der Wind den Schnee herunter. Ich war nach wenigen Schritten vom Ausgang bis zum Taxi komplett eingehüllt in weiße Kristalle, die auf dem Gesicht klebten und nur langsam schmolzen.

Auf dem Sitz neben dem Fahrer lag eine geöffnete Plastikschale mit Fleischstücken in einer gelben Soße auf der einen und Reis auf der anderen Seite. Ein Geruch wie in den Slums von Bombay, wo ich mich vor vielen Jahren verirrte. Mein Mobiltelefon funktionierte nicht. Dort sollte angeblich ein kleiner Laden sein, dessen Besitzer einfach alles reparieren könnte, erklärte mir der Portier des Hotels. Das Geschäft fand ich nie, versuchte jedoch eine Portion 'Chicken Curry' in einem Strassenlokal, vor mir in großen Pfannen gekocht. Ein Lokal reihte sich an das nächste in der Straße und es roch wie in dem Taxi.

Lake Michigan

Am nächsten Tag wollte ich einen alten Freund treffen, einen Österreicher, der auf der Universität Mathematik unterrichtete. Er schlug eines der neuen Cafés vor, die überall eröffnet werden, seit die 'Coffee Culture' die USA erreicht hat. Ich überlegte, ob ich bei diesen Temperaturen zu Fuß gehen könnte. Der Weg würde mich entlang des Sees, des Lake Michigan, ins Zentrum zur Michigan Avenue führen. Ich packte mich ein wie einen Säugling, den man im Winter im Kinderwagen spazieren führt.

Der See war nicht zugefroren, er ist zu groß und zu tief. Auf der Promenade am Strand lagen Eisstücke, manche halb so groß wie Autos, über die ich klettern musste. Wo das Wasser den Strand erreichte, bildeten sich meterhohe Schichten von Eis. An den Straßenlaternen und Strommasten hingen die Eiszapfen im rechten Winkel und zeigten in die Windrichtung. Ich ging über die Michigan Avenue und hätte in der Mitte dieser sonst lauten und geschäftigen Straße spazieren können. Die Stadt war leer, keine Menschen und keine Autos. Eine zugefrorene Geisterstadt.

Robert saß bereits im Café. Als er mich sah, fragte er: "Bist du wirklich so verrückt und hierher zu Fuß gegangen?" Ich nickte. Der heiße Kaffee wärmte. Wir tasteten uns vor mit Erinnerungen, wie ein Gespräch beginnt, wenn man sich länger nicht gesehen hat. In einer Pause zwischen Neuigkeiten über Partnerinnen, Kinder, den letzten Urlaub und Tratsch über gemeinsame Freunde sagte er plötzlich: "Ich geh nicht mehr zurück." "Wie meinst du das?", fragte ich ihn. "Ich bleib hier, ich habe die Staatsbürgerschaft eingereicht", sagte Robert. "Aber dann verlierst du die von Österreich", antwortete ich und stellte die warme Tasse auf den Tisch. "Eben, genau das will ich, dann kann ich nicht mehr zurück", sagte Robert.

Emigration

Robert war in Wien aufgewachsen, hatte in England studiert und in verschiedenen Ländern unterrichtet. Vor zehn Jahren machte ihm die Uni Wien ein Angebot, zurückzukommen. Er klagte seit der Rückkehr ständig, dass er in Wien nicht leben könne, und nahm vor einem Jahr eine Berufung nach Chicago an.

Uns verband eine ähnliche Vergangenheit und Familiengeschichte. Unsere Eltern kannten sich aus der Zeit der Emigration in England. Sie verließen Österreich als Kinder kurz vor dem Krieg und kehrten Anfang der Fünfzigerjahre nach Wien zurück.

"Ich flüchte nicht wie unsere Eltern, ich geh einfach", sagte Robert. Ich antwortete nicht, klopfte nervös mit dem Kaffeelöffel auf dem Tisch. "Sie waren nie glücklich, unsere Eltern, in Wien, sie blieben dennoch, ich bin es hier auch nicht, aber wenigstens nicht unglücklich." Ich lachte. Er erinnerte mich an eine Theorie, über die wir vor Jahren diskutierten. Es gäbe drei Phasen im Leben - glücklich, unglücklich und nicht unglücklich.

"Komm doch mit morgen", sagte Robert plötzlich, "ich muss auf die Verfassung schwören, die 'Oath Ceremony', da kommen alle zusammen, denen die Staatsbürgerschaft verliehen wird. Jeder bringt Familie und Freunde, ich habe hier niemanden, also komm du als meine Familie." Wir lachten, und ich versprach zu kommen.

Rückkehr

Am Weg zurück, den ich wieder zu Fuß wagte, erinnerte ich mich an Gespräche unserer Eltern, wenn Roberts Eltern uns besuchten. Robert, der Jüngere von uns beiden, spielte mit meinem kleinen Bruder. Ich saß im Wohnzimmer mit den Erwachsenen und hörte zu. Immer wieder sprachen sie über den Fehler, nach dem Krieg nach Wien zurückgekommen zu sein, mit all den Hoffnungen, ein neues, ein anderes Österreich würde entstehen.

Doch es änderte sich wenig. Die Polizisten, die meine Großmutter und die Schwester meines Vaters zur Deportation abgeholt hatten, waren immer noch Polizisten. Der Direktor, der meiner Mutter und anderen jüdischen Schülern und Schülerinnen den Schulbesuch verboten hatte, war noch immer Direktor. Unsere Eltern blieben, heirateten, Kinder wurden geboren, und der Alltag ersetzte immer wieder die Hoffnung, nach England zurückzukehren.

Am nächsten Vormittag stand ich vor dem Immigration Office in der Reihe der wartenden Verwandten und Bekannten der zukünftigen Amerikaner und Amerikanerinnen. In einem Gerichtssaal saßen sie nebeneinander in mehreren Reihen. Wir, die Eingeladenen, nahmen Platz auf der Seite. Ein Richter las den Schwur vor, sie standen auf, Frauen und Männer mit den unterschiedlichsten Haartrachten, Hautfarben, mit Turban, Kopftuch oder Kippa, als hätten alle Länder der Welt Vertreter und Vertreterinnen entsandt. Der Richter sprach von 42 Nationen, die heute den Eid schwören würden. Er erzählte von seinem Vater, der aus Kolumbien gekommen war und vor vielen Jahren ebenfalls hier saß. Ein Ehepaar vor mir unter den Zusehern, alt, gebrechlich, nach vor gebeugt, einander an der Hand haltend, wischten sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augen. Die aufgeregte Stimmung der Menschen, die vielleicht viele Jahre auf diesen Augenblick gewartet hatten, übertrug sich auf mich.

Zeremonie

Nach der Zeremonie kamen sie zum Zuschauerbereich, umarmten ihre Familien, Partner, Partnerinnen, und wer sie sonst noch begleitete, lachten und weinten. Fremde schüttelten Robert und mir die Hand und sagten immer wieder: "Congratulation, I am so happy for you!". Ein dunkelhäutiger Mann nahm meine Hand mit beiden Händen und sagte: "15 Jahre hab ich darauf gewartet." Eine junge Frau nahm ihr Kopftuch ab und sagte den erschrockenen Eltern: "Jetzt bin ich Amerikanerin." Die Mutter lächelte, der Vater versuchte, noch etwas einzuwenden, doch die Mutter hielt ihn am Arm zurück.

Ein anderer sprach von der monatelangen Flucht aus Südamerika über Mexiko und durch die Wüste nach Texas. Ein Mann aus Georgien erzählte, er sei als Tourist gekommen, hätte 20 Jahre illegal gearbeitet, Kinder und Ehefrau, die ihn umringten, waren längst Amerikaner, nur ihm hätte man den Pass verweigert, bis heute. Ein Ehepaar aus Nigeria versteckte sich zehn Jahre lang, sie arbeitete als Putzfrau, er in einem Restaurant mit miserabler Bezahlung, bis sie sich Anwälte leisten konnten, die einen Aufenthalt durchsetzten.

Kaiserschmarren

Schicksale, die das meiner Eltern nicht mehr so ungewöhnlich erscheinen ließ. "Wir buchen unsere Flucht im Reisebüro", sagte ich, "vielleicht erinnern uns die Menschen hier, dass wir keine Opfer sind, und unsere Sorgen sind das Fehlen der Kaffeehäuser und der Palatschinken in der Fremde." Robert lächelte und sagte: "Unsere Eltern haben uns Wien erfolgreich als Heimat verweigert, aber ich sehe das nicht so tragisch, das sich Zuhause-Fühlen geht auch ohne Heimat, vor allem hier in den USA."

"Ja, aber fehlt er dir nicht doch, der Kaiserschmarren?", fragte ich. Robert lachte und antwortete: "Den hab ich so lange geübt, bis ich ihn jetzt besser mache als alle Restaurants in Wien."