Leben
Ovation für das „Odeon“
Heinz Sichrovsky über „… am Abend der Avantgarde“, nach Texten der Dichterin Achmatowa
Unter schon traditioneller systematischer Missachtung des Binnen-I möchte ich die Aufmerksamkeit meiner verehrten Leser gern auf eine der aufregendsten Bühnen Wiens richten: 1988, also im Goldenen Theaterzeitalter, baute sich das zuvor in einem Vorstadtkino ansässige Serapions-Ensemble die alte Getreidebörse in der Taborstraße zum Pracht-Etablissement aus. Auf wundersame Weise hatten der Regisseur Erwin Piplits und seine Ehefrau, die Choreografin und Tänzerin Ulrike Kaufmann, ihr Masken- und Bewegungstheater mit einem literaturzentrierten Spielplan zur Deckung gebracht. Claus Peymann, der damals im Vollglanz seiner Umstrittenheit das Burgtheater regierte und nicht müde wurde, die Konkurrenz öffentlich zu verachten, nahm nur eine Bühne aus: Das im nunmehr so benannten „Odeon“ Gezeigte würde er selbst gern können. Das „Odeon“ geriet irgendwann aus der Gunst der Wiener Kulturpolitik, Förderungen wurden gekürzt, offene Begehrlichkeiten hinsichtlich des idealen Theaterraums geäußert. Vor zwei Jahren starb Ulrike Kaufmann, und die Gefahr, das „Odeon“ werde, seiner Seele verlustig, hinterhersterben, war groß. Nun aber brachte Piplits eine Produktion auf der Höhe seiner Kunst heraus: „… am Abend der Avantgarde“, nach Texten der vom Stalin-Regime drangsalierten Dichterin Anna Achmatowa, ist pure Magie, was sonst?