Wenn Helden uns täuschen

S. Kurz und das Stolpern über Erwartungen

von Ex-Kanzler Sebastian Kurz © Bild: Thomas Kronsteiner/Getty Images

Psychologen erklären uns, dass Enttäuschungen nichts mit der Realität zu tun hätten, sondern mit den eigenen Erwartungen, die meist unrealistisch sind. Das lässt sich jedoch nicht Wort-für-Wort auf die Politik übertragen. Diese lebt von Hoffnung und Vertrauen gegenüber politischen Strategien, Programmen und überzeugenden Persönlichkeiten, Grundlagen eines demokratischen Systems, das Wähler und Wählerinnen eine Vielfalt moralisch gleichwertiger politischer Modelle anbieten sollte. Ärger und Frustration als Reaktion auf Skandale, Lügen, Täuschungen und Korruption sind die Folgen berechtigter Erwartungen. Hier scheitert die Interpretation der Psychologen.

Abendessen

Während der Jahre 2013 bis 2017 war Sebastian Kurz Außenminister. Ich lebte damals in Chicago, arbeitete als Leiter eines internationalen Konzerns in den Bereichen Schwerindustrie und Energieversorgung mit der Zentrale in Singapore und weltweiten Niederlassungen, sodass eine Übersiedelung keinen Sinn machte.

Eines Tages erreichte mich ein Anruf des damaligen Botschafters in Washington, den ich noch aus meiner Zeit in New York kannte, während der 80er-Jahre, als er das österreichische Kulturinstitut leitete. Er fragte mich, ob ich Außenminister Kurz kennen würde, ich verneinte. Ich hatte seit meinem Ausscheiden aus der Politik 2004 jeden Kontakt mit Politiker:innen vermieden. Doch Kurz interessierte mich. Der beeindruckende Durchmarsch durch die Institutionen einer konservativen und schwerfälligen Partei wie der ÖVP musste einen neugierig machen. Der Botschafter lud mich zu einem Abendessen ein. Vor dem Essen sprach ich ein paar Minuten mit Kurz. Er war jünger als meine älteren Kinder. Wir kannten einander nicht, uns verbanden keine gemeinsamen Erlebnisse, keine politischen oder beruflichen Interessen. Es war schwierig, ein Gespräch zu beginnen, das nicht wie ein Interview ablief. Alles blieb sachlich, freundlich und höflich. Er sagte, er habe schon eine Menge von mir gehört. Als ich ihn scherzhaft fragte, von wem, denn ich könne mir nicht vorstellen, dass irgendwer in Österreich auch nur ein gutes Wort über mich übrighätte, lächelte er, oder besser, versuchte zu lächeln. Er machte weder einen sympathischen noch unsympathischen Eindruck, alles lief reibungslos und konfliktfrei, und ich dachte mir, eigentlich ein fehlerloser Politiker, und ein wenig intelligenter als jene, die ich in Erinnerung hatte.

Hauptgang

Wir saßen einander gegenüber beim Abendessen. Neben ihm die Ehefrau des Botschafters, neben mir der Assistent von Kurz und der Botschafter. Beiden sprachen abwechselnd mit mir. Ich antwortete ohne Konzentration und wusste oft nicht, welche Fragen sie mir stellten.

Ich beobachtete den mir gegenüber sitzenden gut aussehenden, jungen Mann, der ruhig mit der wesentlich älteren Frau des Botschafters sprach. Manchmal lächelte er, legte das Besteck weg, drehte sich zu seiner Gesprächspartnerin, sie lächelte, auch sie legte das Besteck weg, er drehte sich zurück, beide nahmen das Besteck und aßen weiter. Ein perfektes, gesellschaftliches Verhalten eines jungen Mannes, als ob er sich seit Jahrzehnten in dieser Welt bewegen würde.

Nach dem Hauptgang rückte die Frau des Botschafters den Stuhl zurück und stand auf. Der Botschafter lud mich ein, neben Kurz Platz zu nehmen. Ich ging um den Tisch herum und setzte mich neben Kurz. Vielleicht jetzt, dachte ich mir, könnte ich diesen Mann versuchen zu verstehen, seine Popularität begreifen, und meine eigene Distanz zu diesem Ausbruch an Jugend und Erfolg verarbeiten.

Meidling

Wir sprachen über den Wiener Bezirk Meidling, wo wir beide aufwuchsen. Er fragte mich, ob mir Wien abgehen würde. Ich musste etwas Komisches geantwortet haben, denn er lachte, diesmal lachte er richtig. Ich sah auf meinen Teller und schwieg. Auch er schwieg. Wir hatten beide nichts mehr zu sagen. Ich war mir sicher, dass ihm in diesem Moment bewusst war, dass ich in seinem Leben, seiner Karriere keine Bedeutung hätte, und es völlig gleichgültig gewesen wäre, was ich sagen oder denken würde. Ohne es zu erklären, einigten wir uns, dass ich für ihn weder einen Wert hätte, noch eine Gefahr bedeuten könnte. Nach dem Abendessen ging ich zu Fuß zum Hotel und war mir sicher, dass ich das Phänomen ‚Kurz’ verstanden hätte. Er repräsentierte erfrischend und überzeugend die unbelastete Generation nach der Nachkriegsgeneration. Selbst sein Großvater wurde wahrscheinlich schon nach dem Krieg geboren und während er aufwuchs, erzählte niemand Geschichten von Stalingrad.

Am nächsten Morgen auf dem Weg zurück nach Chicago beschloss ich, ein ‚Kurz- Fan‘ zu werden, sah in ihm die Chance der Erneuerung eines erstarrten Systems, einer bis ins letzte Dorf reichenden Korruption mit Nepotismus, (Partei)- Freund-Wirtschaft und erstickendem Beziehungsgeflecht. Die folgenden Jahre bestätigten meine Hoffnungen. Die Popularität von Kurz erreichte Traumwerte, die rechts-konservative Koalition wurde von weit mehr als der Hälfte der Bevölkerung unterstützt – bis alles dahinschmolz wie ein Schneemann in der Maisonne.

Die Realität ließ mich enttäuscht zurück, wie es die Psychologen prophezeiten. Einsam und verlassen, denn egal mit wem ich sprach, sie alle hatten es gewusst, schon lange, schon von Beginn an. Außer mich hat Kurz scheinbar niemanden enttäuscht zurückgelassen, denn sie hatten im Gegensatz zu mir nichts anderes erwartet. Der Zynismus hat die Hoffnung rechtzeitig ersetzt.

Frisör

Vor ein paar Tagen versuchte ein Frisör in Wien meine noch übrigen Haare so zu bearbeiteten, dass die bloßen Stellen auf dem Kopf weitgehend bedeckt blieben. Neben mir saß ein ehemaliger, einst einflussreicher Politiker. Er war ständig am Telefon und sein Frisör legte immer wieder Schere und Kamm weg, bis der Kunde sein Gespräch beendet hatte. Da ältere Männer meist schlecht hören und annehmen, dass ihre Gesprächspartner ähnliche Probleme haben, sprechen sie besonders laut. Es ging um einen Straßennamen in Wien. Der Herr im Frisörstuhl neben mir versuchte, einen ehemaligen Parteifreund mit der Benennung einer Straße zu verewigen.

Das lief dann etwa so ab: „Geh sog doch dem Bürgermeister einen schönen Gruß, und hoffentlich ist er g’sund, er soll doch bitte den ‚SoWieSo‘ bei der nächsten Straße berücksichtigen, ich weiß ja, ihr seid’s ned zuständig, aber er kann das sicher erledigen, er tät mir einen riesigen G’fallen und ich komm auch gern, und sag ein paar Worte . . . (Pause) . . . na großartig, und danke, und ned vergessen, einen ganz lieben Gruß an den Bürgermeister.“ Ein absurdes Schauspiel in der Öffentlichkeit eines Frisörsalons. Hier zeigt man stolz und schamlos – wie ein russischer General seine Orden – die grenzenlos personifizierte Beziehungswelt, die segmentierte Verflechtung mit Einfluss auf die Vergabe von Impfterminen, Beförderungen, Straßenbenennungen, Steuererleichterung und öffentlichen Inseraten an ‚befreundete‘ Medien.

Volksbegehren

In der Ausweglosigkeit dieser Realität drängt sich eine einzige Möglichkeit auf, Ärger und Enttäuschung zu verhindern: Dieses Land braucht ein Volksbegehren zur Legalisierung der Korruption. Ähnlich wie bei Drogen scheitern legale Maßnahmen, den Gebrauch zu verhindern oder einzuschränken. Legalisierung wäre der bessere Weg, es zu kontrollieren.

Ähnlich wie das ‚Ministerium der Wahrheit‘ im Roman ‚1984‘ von George Orwell, das für Propaganda zuständig ist, könnte eine neue ‚Behörde für Vergesellschaftung‘ die Korruption regeln. Störende Anzeigen und Beschwerden gegen Bestechlichkeit müssten verhindert, unterstützende Verflechtungen institutionalisiert und legalisiert werden. Ab einem gewissen Alter sollte jeder/jede für das private Beziehungsnetz verantwortlich sein, mit möglichst vielen Mitgliedern in möglichst unterschiedlichen Bereichen und Institutionen. Die überschneidenden Systeme könnten so das Ohnmachtsgefühl beenden, von Beziehungsnetzen umgeben zu sein, die benachteiligen und ausschließen.