Warum kommt er bei ihr nicht zum Höhepunkt?

Wie häufig tönt nach einer sexuellen Verschmelzung die Frage: "Bist du gekommen?" Als ob es ein Must-have jeder wahren Liebe wäre, beharrt der Fragende darauf, den Partner, formulieren wir es vorsichtig so, "hinreichend zu stimulieren, um ihn zum Höhepunkt zu bringen. Und so den Liebesakt zu vervollkommnen".

von Liebes Leben - Warum kommt er bei ihr nicht zum Höhepunkt? © Bild: Nathan Murrell

Halten wir gleich fest, dass die Frage gleichermaßen narzisstisch und altruistisch motiviert sein kann. Denn wie immer macht der Ton auch hier die Musik. Wilhelm und Anita, beide Anfang vierzig, näherten sich buchstäblich dem Olymp der Liebe. Doch es drohte kurz vor dem Gipfel Absturzgefahr. Ein wochenlang anhaltender buchstäblicher Sex-Hype prägte ihre Verliebtheitsphase. Bis zur hormonellen Ernüchterung und zum Haar in der Suppe, das in diesem Fall Anita fand: Wilhelm kam nicht. Darauf folgten eine kurze Beziehungspause und das nächste Kapitel im Liebesleben. Wilhelm komme nach der kalkuliert eingelegten Off-Phase noch immer nicht, so Anita aufgebracht in meiner Praxis. Und er? Saß wie ein begossener Pudel daneben und zuckte hilflos mit den Achseln.

War bei Wilhelm und Anita zuerst der Himmel voller Geigen gehangen, unabhängig davon, ob er kam oder nicht kam, evaluierte sie irgendwann jedweden Liebesakt. Es folgte postwendend ihr Satz, ob er auch gekommen sei. Sie kam, er nicht. Und dann folgte, noch schlimmer, Anitas sofort ausgestelltes Negativattest: "Jetzt bist du schon wieder nicht gekommen!" Sein Höhepunkt bildete vor dem Hintergrund solchen Erwartungsdrucks für sie aber nicht bloß die ultimative Draufgabe. Sondern das unverzichtbare Gütesiegel und den - bürokratisch gesprochen - faktischen Nachweis, dass sie irrtumssicher "wie geschmiert" zusammenpassten. Dass, ja dass - und jetzt kommt es erst so richtig dicke - sie wirklich guten Sex hatten und Anita nicht nur gut genug, sondern Wilhelms Mrs. Right war.

Wo saß hier der Wurm drin? Urologische Defekte waren bei Wilhelm bereits medizinisch ausgeschlossen: Er konnte also, wollte aber (anscheinend) nicht oder war - durch, Anita vermutete: irgendetwas an ihr - "daran gehindert". Ein kategorialer Irrtum. Denn um die Kategorien Ursache und Wirkung geht es in der Liebe auch, aber nicht nur. Anita quälte sich insgeheim mit nagenden Selbstzweifeln, solange ihr Wilhelm das Gütesiegel der Vollkommenheit verwehrte. Machte sie etwas falsch beim Sex? War sie für Wilhelm nicht gut, nicht heiß, nicht schön, nicht erotisch genug? Oder war sie durch ihr früheres Sexleben schon zu sehr geöffnet, zu wenig feucht oder zu feucht ? Sie sei schon auf alternative Sexpraktiken ausgewichen, um ihm alles, wirklich alles zu bieten, damit er ihr endlich seine Liebe unter Beweis stellen könnte. So gesehen war ihr Einfordern seines Orgasmus narzisstisch motiviert, und Wilhelms Ejakulation die Trophäe, um Anitas erschüttertes Selbstwertgefühl "als ganze Frau" zu stabilisieren. Und hier saß er auch schon drin, der Wurm. Er steckte in Anitas Betrachtungsweise sexueller Verschmelzung. Sie betrieb sie wie Leistungssport, erwartete klischeehaften Sex, wie er in gewissen prototypischen Filmen gezeigt wird. Oder auch im Biologiebuch der siebten Klasse beschrieben war. Und Wilhelm? Er outete sich in der Paartherapie als passionierter Frauenversteher, der seinen Höhepunkt im Altruismus fand: die Auserwählte ultimativ zu befriedigen. Sein eigener Orgasmus sei ihm nicht wichtig, so der gute Mann. Und, ja, es werde schon kommen, dass er irgendwann komme, wenn sie Druck wegnehme und - so die Conclusio - er seine Angst vor zu viel Abhängigkeit und Bindung abbauen und sich wirklich, wirklich hingeben könne. Erst dann, wenn Vertrauen keinen bildhaften Abgrund mehr bedeutet, ist der Olymp der Liebe erreicht und die Absturzgefahr gebannt. Erst wenn sich beide fallen lassen, aufhören, zu bewerten und gefallen zu müssen, Klischees zu erfüllen, ist das der Höhepunkt der Liebe.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly ist Philosophin und Psychotherapeutin