Der tiefe Blick
in die menschliche Seele

Seit bald vierzig Jahren verstört Ulrich Seidl mit seinen Filmen. Am 24. November wurde der österreichische Regisseur 65. In News spricht er über seinen neuen Film, "Böse Spiele", und sein Gesamtwerk, das auf 18 DVDs erscheint

von Ulrich Seidl - Der tiefe Blick
in die menschliche Seele © Bild: News Ernst Kainerstorfer

Welch ein Vermächtnis, das der große Schauspieler Hans-Michael Rehberg ein halbes Jahr vor seinem Tod dem Regisseur Ulrich Seidl zukommen ließ! "Sein schönster Filmdreh seit 25 Jahren" sei das gewesen und der Film "Böse Spiele" "dank tieftrauriger, unvergesslicher Szenen ein besonderes Geschenk, und das trotz Schmerzen, Krankheit und Angst vor dem Tod". Rehberg, der einen dementen ehemaligen Nazi verkörpert, starb Anfang November. Nun stellt Seidl das Werk in Rimini mit den Schauspielern Georg Friedrich und Michael Thomas fertig. Sie verkörpern die Söhne des alten Monstrums, die sich in Rumänien und Italien Existenzen aufbauen. Das Drehbuch hat Seidl mit seiner künstlerischen Partnerin und Gemahlin Veronika Franz verfasst. "Böse Spiele" ist sein 22. Film und soll 2019 die Kinos erreichen.

Zuvor aber erscheint Ulrich Seidls bisheriges gesamtes Schaffen auf DVD. Dass dessen Veröffentlichung mit dem 65. Geburtstag seines Schöpfers am 24. November zusammentrifft, sei keineswegs zur Würdigung des Jubilars geplant gewesen, versichert Seidl. Die stete Nachfrage vor allem nach frühen, unveröffentlichten Arbeiten war Anregung genug, sein Gesamtwerk aufzuarbeiten, erklärt Seidl.

Sittengemälde

In seinem Debüt, "Einsvierzig" aus dem Jahr 1980, porträtierte er einen kleinwüchsigen Mann; dann Tierfreunde spezieller Ausformungen ("Tierische Liebe"); endlich die abseitigen, verborgenen Sehnsüchte der Österreicher ("Im Keller"). Künstlich erzeugte Skandale, das beweist die Sammlung, hat er nie gebraucht. Denn seine Filme haben von Anfang an polarisiert und verstört. Sie waren der Skandal per se. "Jeder meiner Filme ist ein Sittengemälde Österreichs, aber auch unserer westlichen Gesellschaften", moniert Seidl. "Man blickt in die Seele der Menschen, aber nicht in dem Sinn, dass man einzelne Menschen ausstellt, sondern dass sie stellvertretend für uns alle sind. Sie repräsentieren etwas, das auch für den Zuschauer gilt."


Das war sch0n beim Filmstudenten Seidl nicht anders. Die Schülerarbeit "Der Ball" (1982) zeigt den Ulrich Seidl, wie ihn Cineasten seit bald vier Jahrzehnten kennen. Gezeigt wird der Schulball seines ehemaligen Gymnasiums im niederösterreichischen Horn, und die Einblicke in das Leben der Waldviertler Kleinstädter und ihre strengen Verhaltensmuster sind klaustrophobisch. In dieser Welt sei er aufgewachsen, sagt Seidl, Sohn des örtlichen Arztes.

Bewährte Rebellion

"In der Enge der Kleinstadt herrschten strenge Strukturen. Es gab zwei Parameter, wenn man dort Karriere machen wollte: Man musste schwarz und katholisch sein. Und mein Vater war einer der Bürger, die diese Haltung vertreten haben. Ich rebellierte von Jugend an gegen diese Autoritäten, denn ich hielt sie für falsche Autoritäten", sagt Seidl. Autoritäten erkundete er auch als Internatszögling bei den Schulbrüdern und den Jesuiten. "Wir sind damals noch mit Silentium in Einser-oder Zweierreihen durch das Stiegenhaus gegangen. Später haben wir erfahren, was in der katholischen Kirche noch passiert. Ich dachte, gegen dieses Diktat, gegen diese Heuchelei muss man auftreten", sagt er. Das tat er in "Paradies: Glaube"(2012). Für die wahnwitzige Geschichte einer passionierten Katholikin, die trotz ehelicher Verbindung mit einem gelähmten Moslem ein libidinöses Verhältnis mit Jesus Christus pflegt, drohte ihm eine italienische katholische Organisation mit einer Klage wegen Blasphemie. Solches aber liegt Seidl, der sich einen "Gottsuchenden" nennt, fern.

© News Ernst Kainerstorfer

Die Rebellion hatte sich früh in seinen Filmen manifestiert. Als "Der Ball" an der Akademie heftig kritisiert wurde, weil er nicht nach herkömmlichen Mustern gefertigt war, brach Seidl das Studium ab. "Ich habe mich dagegen gewehrt, dass man Film wie ein Diktat unterrichtet." Denn früh hatte er seine eigene Methode entwickelt: die Verbindung von Dokumentarund Spielfilm. Dialoge gibt es nicht, die Darsteller improvisieren. Das ermöglicht eine "intensive Auseinandersetzung mit der Thematik", erklärt die Oberösterreicherin Maria Hofstätter, seit zwanzig Jahren eine aus Seidls engstem Schauspielerkreis.

"Urgewalt des Films"

Die folgenreiche Bekanntschaft stellte der nunmehrige News-Cartoonist Gerhard Haderer her: Seidl porträtierte ihn 1992 für den ORF. "Er wollte, dass ich eine halbe Stunde über mich spreche, aber meine Sprache sind meine Zeichnungen", sagt Haderer. Also verwies er den wissbegierigen Filmer an seine beredsame Nachbarin, die angehende Schauspielerin Hofstätter. "Erst nach einem halben Drehtag hat er erkannt, dass diese Nachbarin ein Profi war", erinnert sich Haderer, der Seidl "die Urgewalt des österreichischen Films" nennt. "Er hat gezeigt, dass man mit Spieldokumentationen so tief in die österreichische Seele eindringen kann, wie ich es mir von meinen Zeichnungen nur in den kühnsten Träumen wünschen kann."

Für die "Neue Zürcher Zeitung" ist Seidl "der Dokumentarist des alltäglich Abnormen". Als er "Im Keller" ältere Herrschaften stolz ihre Nazi-Devotionalien vorführen ließ, brachte das dem Besitzer eine Verurteilung wegen Wiederbetätigung ein. "Das war nicht etwa ein Geheimkeller. Die Menschen wissen von solchen Dingen, aber sie finden nichts dabei. Mir geht es darum, zu fragen, warum das so ist", sagt Seidl und fügt hinzu: "Ich zeige keine Außenseiter."

Der Ausgang der Nationalratswahl überraschte den Analytiker der österreichischen Seele nicht. "Die meisten Leute sind hilflos, überfordert. Sie haben Angst und erwarten sich von einer autoritären Führung eine Veränderung des politischen Klimas." Sebastian Kurz' Erfolg sieht er in dessen "medialer Begabung" begründet. "Aber das ist mir für einen künftigen Bundeskanzler zu wenig." Dass es unter einer schwarz-blauen Regierung schwieriger werde, Filme zu produzieren, wagt er noch nicht zu sagen. "Aber meine Arbeit war ja immer ein Kampf."

Ideen hat er jedenfalls genug, und das gibt Hoffnung auf eine starke Opposition des Geistes in zweifelhafter Zeit.