Irritierend, kontrovers, wichtig

Das österreichische Filmemacher-Aushängeschild feiert seinen 60. Geburtstag

von Ulrich Seidl © Bild: APA/DPA/Kalaene

Wenn Seidl Kino macht, dann macht er das mit einem erbarmungslosen Blick, ohne zu verschönern oder wegzuschauen, stattdessen im Wissen um die menschlichen Untiefen und jene Interessen, die üblicherweise gut versteckt in den eigenen vier Wänden bleiben. Seidl schaut dorthin, wo die meisten lieber ihren Blick abwenden - und erregt nicht selten damit den Unmut der Moralhüter. Zuletzt gab es im September in Italien eine Anzeige wegen Blasphemie, als "Paradies: Glaube" beim Filmfestival in Venedig seine Premiere feierte.

Anzeige und Spezialpreis der Jury

Der zweite Teil der Trilogie - der erste Teil mit dem Zusatztitel "Liebe" war zuvor bereits bei den Filmfestspielen in Cannes im Wettbewerb gelaufen - schildert das Leben der missionarischen Krankenschwester Anna Maria, die sich selbst geißelt, mit dem Kruzifix masturbiert und einen innerehelichen Konflikt mit einem muslimischen Ägypter austrägt. Der Film geriet über weite Strecken amüsanter, als Seidl das selbst erwartet hätte, und wurde nur wenige Tage nach der Anzeige mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.

Dritter Teil im Februar bei der Berlinale

Die gleiche Auszeichnung hatte Seidl zwölf Jahre vorher bereits für "Hundstage", ebenfalls mit Maria Hofstätter in einer zentralen Rolle, erhalten - und das völlig zurecht. Über kaum einen Film wurde am Lido so heftig diskutiert wie über "Paradies: Glaube", und kaum ein Film vermochte eingefahrene Diskurse über Religion und Glauben stärker aus den Angeln zu heben. Schon "Paradies: Liebe" über weibliche Sextouristen in Kenia hatte in Cannes für viele Diskussionen gesorgt. Der dritte Teil, "Paradies: Hoffnung", wird im Februar bei der Berlinale im Wettbewerb präsentiert - für Seidl ein Hattrick der besonderen Sorte.

"Immer mit dem Zufall rechnen"

Wie bei "Hundstage" oder "Import Export" arbeitete er wieder sowohl mit professionellen Schauspielern (u.a. Hofstätter) als auch mit Laien, mit viel natürlichem Licht und dokumentarischen Stilmitteln, mit zwar genauem Drehbuch, wie er erklärte, aber ohne vorgegebene Dialoge: "Man kann und muss immer mit dem Zufall rechnen." Er sei nicht darauf angewiesen, dass geschriebene Szenen in den Film kommen, verlasse sich dagegen vielmehr auf Improvisation und daraus erwachsende Überraschungen, deshalb kann sich die Arbeit an Filmen oft jahrelang ziehen. "Bei mir dauert's immer lange", sagt Seidl lapidar.

Aushängeschild

Sein kritischer Blick auf die Gesellschaft und die besondere ästhetische Form seiner Filme haben den Drehbuchautor, Regisseur und Produzenten zu einem Aushängeschild für den österreichischen Film gemacht - auch wenn seine Filme nicht zuletzt auch hierzulande oft heftige Reaktionen ernten. Dokumentarfilme wie "Good News", "Die letzten Männer" oder "Tierische Liebe" wurden heiß diskutiert, mit "Models" bekamen seine Arbeiten schließlich einen fiktionaleren Charakter. Seine Doku "Jesus, du weißt" verwandelte Seidl an der Berliner Volksbühne schließlich auch in ein Theaterstück mit dem Titel "Vater unser".

Eigentliches Berufsziel: Priester

Die Auseinandersetzung mit Religion kommt nicht von ungefähr. Der am 24. November 1952 in Wien geborene und im niederösterreichischen Horn aufgewachsene Seidl hätte eigentlich Priester werden sollen, schlich stattdessen aber an den Wochenenden ins für ihn verbotene Kino: Uschi-Glas- und Westernfilme waren erste prägende Filmerfahrungen. Seidl studierte in Wien Publizistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte, mit Jobs als Nachtwächter, Lagerarbeiter und als Medikamentenversuchskaninchen finanzierte er sein Studium.

Film als Lebensinhalt

Erst mit 26 Jahren entschloss er sich, die Filmakademie zu besuchen, die er nach seinem Debüt "Einsvierzig" (über einen Liliputaner) und dem umstrittenen Film "Der Ball" frühzeitig wieder verließ. Dass er Konflikte nicht scheut, hat er kürzlich auch bewiesen, als er seine Filme von der Viennale zurückzog. Inzwischen hat Seidl selbst schon auf Filmakademien gelehrt und galt als einer der Vorreiter einer verstärkten Suche nach Realismus im europäischen Kino. Sein Leben hat er ganz der Arbeit gewidmet: "Wenn ich keine Filme mache, bereite ich welche vor. Filme machen oder Filme denken ist sozusagen mein Leben."

Zwei Dokus kommen

Das hielt ihn aber nicht ab, sich auch ein zweites Mal dem Theater zu widmen: Kurz nach den Filmfestspielen von Cannes feierte seine David-Foster-Wallace-Adaption "Böse Buben / Fiese Männer" bei den Wiener Festwochen Premiere. Inzwischen wächst bereits die Neugier auf seine nächste Filmarbeit: Die Dreharbeiten zur Doku "Im Keller" sind abgeschlossen, der Film soll die unterirdische Beziehung der Österreicher zu ihren Kellern skizzieren. Und auch eine Doku über Seidl selbst, gedreht von Constantin Wulff, ist derzeit in der Fertigstellung.

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