Wir Sozialtouristen

Brauch und Missbrauch als Volkssport

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Der Begriff Sozialtourismus in seiner doppelsinnigen und widersprüchlichen Bedeutung erlebt eine gesellschaftspolitische Aktualität. Einerseits geht es um den Vorwurf, das Sozialsystem trickreich als "Tourist" zu benutzen - gleichzeitig ist es das Symbol für bezahlte arbeitsfreie Zeit und leistbaren Tourismus; eine Forderung, für die sich der belgische Widerstandskämpfer und Überlebende des KZ Dachau Arthur Haulot bereits in den Dreißigerjahren einsetzte. Man könnte den Begriff als sozialen und asozialen Tourismus voneinander trennen. Der Mehrheit der Bevölkerung soll mit bezahlten Urlaubstagen und leistbaren Ferien der Zugang zu Erholung ermöglicht werden. Bis vor Hundert Jahren ein Privileg der Wohlhabenden in den mondänen Ferienorten. Eine Minderheit entwickelt eine beeindruckende Kreativität und Perfektion beim Missbrauch der sozialen Sicherheit - für jene geschaffen, die sie nicht sind.

Ukraine

CDU-Chef Friedrich Merz erklärte wenige Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine über ukrainische Flüchtlinge: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine." Nach heftigem Protest bedauerte Merz diese Äußerung. Die negative Bedeutung des Begriffs kommt aus den Jahren 2012/2013. Er wurde 2013 zum "Unwort des Jahres" gewählt. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass das Grundwort "Tourismus" vermittle, die Zuwanderung aus Not sei "eine dem Vergnügen und Erholung dienende Reisetätigkeit". Aus Sicht der Gesellschaft für deutsche Sprache ist mit dem Begriff " gezielte Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer", gemacht worden.

Auch in Österreich hatte die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner den Begriff im Zusammenhang mit der Freizügigkeit für EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien verwendet. Dass diese Aussagen durch keine Fakten zu begründen waren, bewiesen einige Studien.

Sozialbetrug

Friedrich Schneider von der Johannes Kepler Universität Linz konnte widerlegen, dass Sozialbetrug ein Ausländerproblem sei. Im Gegenteil: "Es sind wahrscheinlich drei Viertel Österreicher, die den Betrug begehen", so Schneider im Gespräch mit ORF-Ö1. Ihnen sei das österreichische Sozialsystem geläufig und sie kennen die Möglichkeiten, es auszunutzen. Schneider schätzte damals, dass das Ausmaß des Sozialbetrugs von 2011 bis 2013 durchschnittlich bei 1,1 Milliarden Euro lag -das seien lediglich 1,3 Prozent der Gesamtausgaben im Sozialbereich.

Mit logischen Argumenten und Statistiken lässt sich jedoch ein gesellschaftliches Problem nicht widerlegen. Wenn syrische Flüchtlinge zurück nach Syrien fahren, um Verwandte zu besuchen, irakische in den Irak und ukrainische in die Ukraine, sind der Zweifel und die Skepsis in der Bevölkerung zu verstehen, ob es sich hier tatsächlich um großzügig unterstützte Flüchtlinge handelt. Wer ein Land verlässt, weil dort Lebensgefahr droht, dann auf Urlaub zurückfährt, ist als Flüchtling nicht unbedingt glaubwürdig.

Sozialer Tourismus

Eine völlig konträre Bedeutung hat der Begriff "Sozialtourismus" in der verbalen Zusammensetzung von sozial und Tourismus. Es sind einerseits verschiedene Unterstützungen - Urlaubsgutscheine, Subventionen, Gewerkschaftsheime -, um den Zugang zu Urlaub und Erholung zu ermöglichen. Erfasst jedoch auch den Kampf der Arbeiterorganisationen für das Recht auf Freizeit. Die Forderung und Durchsetzung von bezahlten Urlaubstagen - aktuell geht es um die Viertagewoche - war einer der ersten und wichtigsten Erfolge des Sozialtourismus.

Das Wort Urlaub hat seinen Ursprung im althochdeutschen "urloub" und bedeutet "Erlaubnis". Mägde und Knechte konnten nach der Ernte zum Altbauern, dem "Ur" gehen und diesen um Er-laub-nis bitten, den Hof vorübergehend zu verlassen. Mit der erteilten Erlaubnis wurden die Trinkgelder ausbezahlt.

Urlaub für Fabrikarbeiter gab es bis Anfang des 20. Jahrhunderts nicht. Während die ersten Ferienorte im 19. Jahrhundert geöffnet wurden, konnten einfache Arbeiter von diesem Wandel des gesellschaftlichen Lebens nicht profitieren. Sie schufteten Mitte des 19. Jahrhunderts an sechs Tagen die Woche 16 Stunden lang, hausten in ärmlichen Wohnungen inmitten des Drecks und Lärms der Großstadt, bekamen jedoch keinen Urlaub. Im Jahr 1903 setzten Brauereiarbeiter als erste Arbeitergruppe per Tarifvertrag einen bezahlten Urlaubsanspruch durch. Sie erhielten drei Tage im Jahr. Manche Arbeitgeber gewährten freiwillig mehr Tage Urlaub - meistens jedoch unbezahlt. Erst in den 1920er-Jahren gelang es den Gewerkschaften, einen Urlaubsanspruch bei vollem Lohn für Arbeiter durchzusetzen.

Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs garantierten Unternehmen drei bis vier Tage bezahlten Urlaub. Gewerkschaften und politische Parteien gründeten eigene Touristenvereine, die preisgünstige Kurzreisen anboten. Sie bauten Ferienheime - oft mit tatkräftiger Hilfe ihrer Mitglieder. Auch kommerzielle Reiseveranstalter, wie das "Amtliche Bayerische Reisebüro", stellten sich mit günstigen Angeboten auf die neuen Kunden ein. Frankreich und Belgien waren die ersten Länder in Europa, die Ferienlager für Kinder ärmerer Familien einrichteten. Der Begriff "Sozialtourismus" kommt ursprünglich aus der Schweiz, wo 1939 erstmals sogenannte "Reisegutscheine" an Arbeiterfamilien verteilt wurden.

Arthur Haulot

1913 in Brüssel geboren, setzte sich Haulot bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für sozialen Tourismus ein. Als der bezahlte Urlaub 1939 eingeführt wurde, ernannte ihn die Brüsseler Regierung zum Direktor des Generalkommissariats für Tourismus.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen flüchtete er nach Frankreich, kehrte 1940 zurück nach Brüssel und schloss sich dem Widerstand an. Im Dezember 1941 wurde er verhaftet und nach Dachau deportiert. Ab Jänner 1943 arbeitete er in der Krankenanstalt, wo ihm der Aufbau eines illegalen Komitees der Häftlinge gelang. Als die US-Armee das Konzentrationslager befreite, übernahm Haulot als provisorischer Leiter das Lager, um den Abtransport der ehemaligen Häftlinge und ihre medizinische Versorgung zu koordinieren. Er war einer der letzten der befreiten Gefangenen, die den Weg nach Hause antraten. Nach der Befreiung veröffentlichte er zahlreiche Romane und Gedichtbände. 1994 wurde er mit den Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung von Dachau beauftragt. Sein eigentliches Interesse galt auch nach dem Kriege dem Tourismus. Als überzeugter Sozialist gründet er 1963 die "Internationale Organisation für Sozialtourismus" (OITS-ISTO), um "eine dauerhafte internationale Zusammenarbeit im Sozialtourismus zu organisieren". Laut Statuten ist ISTO ein internationaler Verein, dessen Mission es ist, den Zugang zu Freizeit, Urlaub und Tourismus für Jugendliche, Familien, Senioren und Menschen mit Behinderungen zu unterstützen.

Wiener Charta

1972 wurde die "Wiener Charta" verabschiedet, laut der Tourismus ein für alle zugängliches Entwicklungsmittel sei und eine Sozialpolitik für den Tourismus entwickelt werden müsste. Projekte und Ideen des "alternativen Tourismus", Bedürfnisse sowohl der Gäste als auch der Gastgeber-Bevölkerung zu berücksichtigen, so wie umweltschonender "nachhaltiger Tourismus" motivieren Urlauber und Tourismusunternehmen, den Fremdenverkehr zu überdenken und neu zu gestalten. Die UNO richtete eine eigene Sektion für Tourismus ein. Arthur Haulot wurde zum ersten Präsidenten der World Tourism Organisation ernannt.

Arthur Haulot starb 2005. Seit 2006 wird mit Unterstützung der Wallonischen Region und Moussia Haulot alle zwei Jahre ein "Arthur-Haulot-Preis" verliehen. Der Preis dient - laut Statuten - der Weiterführung des Werkes von Arthur Haulot im Kampf gegen jegliche Formen von Totalitarismus, Rassismus und Antisemitismus, insbesondere durch Aktionen, die darauf gerichtet sind, die junge Generation über Ungerechtigkeiten und Verbrechen aufzuklären, die aus Intoleranz und Vorurteilen erwachsen könnten.