Eines Tages werde ich
dich nicht mehr erkennen

Autor Peter Sichrovsky über das Vergessen als Chance oder Bedrohung.

von Schlaglichter - Eines Tages werde ich
dich nicht mehr erkennen © Bild: Getty Images/OLIVER ROSSI

Was ist, wenn ich dich nicht mehr erkenne?“, fragt Franz. Sie sitzen auf einem schmalen Balkon, der wie angeklebt an die Hausmauer gerade noch genügend Platz für einen Tisch und zwei Sessel bietet. Franz sieht auf seine Tasse. Er hat sie fast leergetrunken. Auf ihr ist das Bild einer Burg mit Mauern und Türmen. Er versucht, sich zu erinnern, wo er sie kaufte. Sie brachten immer wieder Tassen und Becher als Andenken von ihren Reisen. Er weiß es nicht mehr und zögert, Edith zu fragen. Edith füllt seine Tasse mit Kaffee, gibt etwas Milch dazu. Franz verrührt das mit einem kleinen Löffel und beobachtet, wie die weißen Kreise sich langsam auflösen. „Der Arzt hat doch gesagt, das kann noch lange dauern“, sagt Edith und gießt Kaffee in ihre Tasse. Sie trinkt ihn lieber ohne Milch, jedoch mit Zucker.

„Irgendwann kommt es, und dann erkenne ich dich vielleicht nicht“, sagt Franz. Auf dem Tisch steht ein Teller mit Keksen, trockene Butterkekse, die Edith am Tag vorher gebacken hatte. Franz mag Butterkekse. Seit dem Arztbesuch vor ein paar Wochen versucht sie, beim Kochen auf seine Lieblingsspeisen Rücksicht zu nehmen. Das hatte der Arzt ihr empfohlen, als er sie nach dem Besuch ein paar Stunden später anrief und ihr ein paar Ratschläge gab, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollte.

Ein Stück Normalität

Franz nimmt ein Keks und legt es auf einen kleinen Teller mit blauem Rand. Er drückt es zusammen. Es zerfällt in kleine Stücke und Brösel. „Magst du sie nicht?“, fragt Edith. „Du redest anders mit mir jetzt und kochst ständig.“ Franz spielt mit dem zerdrückten Keks und schiebt die Brösel auf dem Teller hin und her. „Ich versuch doch nur, einfach normal weiterzuleben.“

„Tust du eben nicht, du behandelt mich wie einen Kranken, einen Behinderten, immer schwebt dieses Mitleid über allem“, sagt Franz. Edith schweigt. Sie schaut vom Balkon auf die Bäume, die in dem großen Garten einfach nur schweigend herumstehen, als ginge sie das alles nichts an.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagt Franz. „Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortet Edith. „Was machst du, wenn ich dich nicht erkenne?“, wiederholt Franz die Frage. „Was soll ich dir darauf antworten? Ich hab damit keine Erfahrung“, sagt Edith leicht gereizt. Sie nimmt ein Keks und steckt es in den Mund und beginnt plötzlich, zu lachen. „Was ist plötzlich so lustig?“, fragt Franz. „Ich habe mir das eben vorgestellt, ich sitz hier am Balkon, und du kommst aus dem Wohnzimmer und kennst mich nicht, klingt schon fast komisch.“

Edith lacht mit dem Keks im Mund und beginnt, zu husten. Franz spielt immer noch mit den Bröseln auf seinem Teller. „Also überleg einmal, wenn ich eine Fremde bin für dich, aber immer noch dieselbe, die jetzt mit dir zusammen lebt, dann müsstest du dich eigentlich in mich verlieben.“ Edith beginnt, zu husten, bis Franz ihr mit der Hand leicht auf den Rücken schlägt und sagt: „Jetzt trink doch etwas, du hast ja all die Brösel im falschen Rohr!“ Sie nimmt ihre Tasse.

Momente des Alltags

Das Gesicht von Franz beginnt, sich zu beruhigen, er lächelt und fragt: „Du meinst, ich sehe dich wie früher, wie beim ersten Mal?“ Sie nickt. „Das war vor 40 Jahren“, sagt Franz. „Sicher, es ist nicht wie damals, wir haben uns verändert, sind alt geworden, aber es gibt ja keinen Unterschied für dich“, antwortet Edith aufgeregt. Franz beginnt, zu lachen, und sagt: „Wenn du unsere Wäsche aufhängst nach dem Waschen, fällt mir nicht auf, dass alles doppelt so groß ist wie früher?“ „Na, ist ja typisch, woran du denkst“, sagt Edith. „Aber es ist nicht die Kleidung, es ist das, was sie bedeckt oder versteckt, denk doch daran, wie wir jetzt aussehen, wenn wir aus der Wanne steigen“, sagt Edith. „Du glaubst also, obwohl ich dich jeden Tag sehe, bist du bist mir dennoch fremd, aber du gefällst mir?“, fragt Franz.

Er spricht langsam, stockend, als müsse er jedes Wort erst suchen. Edith nickt wieder, nimmt den großen Teller vom Tisch, geht in die Wohnung, kommt zurück mit frischen Keksen und fragt: „Du bist doch gerne mit mir zusammen, so wie heute, hier am Balkon?“ „Ja, natürlich, es ist schön mit dir, hier sitzen und Kaffee trinken, reden, schweigen, einfach in deiner Nähe sein, auch mit den Unterhosen dort auf der Wäscheleine.“ Franz lacht auf und Edith schlägt ihm, immer noch vor ihm stehend, mit der Hand auf die Schulter. Franz zuckt kurz zurück und sagt: „Aber diese Gemeinsamkeit, die Momente des Alltags mit dir, ich werde sie verlieren.“ „Nein, du kannst sie nicht verlieren“, sagt Edith.

Sie setzt sich und sagt: „Es ist vielleicht sogar alles viel einfacher.“ „Verstehe ich nicht“, sagt Franz. „Du sitzt hier ohne Erinnerung, verges sen sind die unangenehmen Erlebnisse, die Verletzungen, die Enttäuschungen, der Verlust der Jugend und der Schönheit, es fehlt dir der Vergleich, das Beobachten, das Erleben des Verfalls“, sagt Edith und schaut nachdenklich auf Franz. Er weicht ihrem Blick aus und sagt: „Das klingt beruhigend, aber hat ein Problem.“ „Und?“ Edith sieht ihn erwartungsvoll an. „Dich werden meine Veränderung quälen, das Vergangene ist für dich nicht vergessen, und mein Vergesslichkeit wird dich einsam machen, weil du es alleine erleben musst“, antwortet Franz. Sie schweigen eine Weile, als würden sie versuchen, die Vergangenheit aufzuteilen in Erinnerungen und Vergessenes.

Ein Fremder im Bett

„In wenigen Monaten ist alles anders, begreifst du nicht, was da auf uns zukommt?“ Franz wird lauter. Er fährt sich mit den Handflächen über das Gesicht. „Hör auf, zu schreien, das klingt, als ob du mir einen Vorwurf machst“, sagt Edith langsam und leise. „Es tut mir leid“, sagt Franz. „Du gehst entweder jetzt schon in ein Heim, oder wir versuchen es“, sagt Edith, und Franz nickt und flüstert vor sich hin: „Wir versuchen es, aber eines Tages wirst du mich nicht mehr aushalten.“ „Wenn du mich gern hast, jetzt und heute, warum soll es nicht möglich sein, dass ich dir genau so gefalle, wenn du am Morgen aufstehst und glaubst, du kennst mich nicht?“, fragt Edith. Franz antwortet nicht. „Überlege einmal, wenn ich eine Fremde bin für dich, und du hast kein Interesse an mir, ist dann nicht unsere Ehe auch jetzt überflüssig und nur schlechte Gewohnheit?“ Fragt Edith.

„Also, wenn ich dich vergesse, und mich wieder in dich verliebe, bedeutet es, dass unsere Ehe jetzt funktioniert, das klingt ziemlich verworren“, antworte Franz. „Ja, vielleicht mach ich mir nur was vor, aus Angst, aus Unsicherheit, am einfachsten wäre es, wenn auch ich alles vergesse“, sagt Edith plötzlich, und beide lachen wieder. „Ja, dann treffen wir uns jeden Morgen wie zum ersten Rendezvous!“, sagt Franz.
Er nimmt ein neues Keks und schiebt es in seinen Mund. „Hm, schmecken wirklich gut. Die werde ich bald essen und glauben, ich hätte nie vorher so gute Keks gegessen, ein völlig neues Kekserlebnis. Ich werde hier am Balkon sitzen und das Wetter von gestern vergessen und wenn es regnet, nicht sagen, scheiß Wetter, gestern war es schöner!“ „Alles könnte neu sei, Ich könnte auch wieder singen, auf dem verstimmten Klavier spielen, das hab ich seit Jahren nicht mehr gemacht“, sagte Edith. „Du hast recht, und ich würde nicht sagen, deine Stimme klingt jetzt wie das Krähen eines Hahns im Vergleich zu früher“, sagt Franz.

Alles verloren

Edith versucht, zu lächeln, greift nach seiner Hand, und Franz flüstert: „Das Vergessen als Chance, so hab ich mir das noch nicht überlegt, wir klammern uns an eine Hoffnung.“ „Wahrscheinlich, aber aufgeben, ganz ohne Hoffnung?“ Fragt Edith. Dann werden sie plötzlich ruhig, als hätte ihnen jemand ein Zeichen gegeben, mit dem Sprechen aufzuhören. Franz zieht seine Hand zurück und nimmt die Brille ab, legt sie auf den Tisch, und starrt Edith an mit seinen klein gewordenen, alten Augen, und er wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte, und sie erkannte seine Gedanken an den roten, nervösen Flecken in seinem Gesicht, dass er daran dachte, sie werde ihn sicher in ein Heim geben und das Spiel, das sie eben noch versuchten, keine Hoffnung zuließ und schon lange verloren war.