Nehammers Problem

Nicht nur die türkise ÖVP steckt in der Krise, sondern auch die schwarze. Versuche des Kanzlers und designierten Bundesparteiobmannes, sich darüber hinwegzuretten, sind bisher gescheitert

von Kolumne - Nehammers Problem © Bild: Privat

Auch Tage nach der Moskau-Reise dauerten die Spekulationen an: Was wollte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) beim russischen Präsidenten Wladimir Putin erreichen? Den Kriegsherrn auf die Gräuel von Butscha anzusprechen und ihm dabei direkt in die Augen zu schauen, ist das eine. Das andere ist das Ziel des Ganzen. Bei einem Mann wie Putin scheint es aussichtslos zu sein, ans Gewissen zu appellieren. Diesbezüglich führte das 75-minütige Gespräch auch zu keinem Erfolg. Im Gegenteil, mittlerweile hat Putin die Brigade ausgezeichnet, die in Butscha stationiert war. Gaslieferungen nach Europa wurden laut Nehammer vom Präsidenten wiederum selbst angesprochen: Sie seien sichergestellt. Für eine Vermittlerrolle scheint Österreich schließlich nicht in Frage zu kommen: Das Land gilt als zu klein und bedeutungslos. Der Verweis auf die Neutralität macht die Sache kaum besser. Sie ist von Russland gleich nach Beginn des Krieges angezweifelt worden. Und zwar, nachdem Nehammer erklärt hatte, dass sie der Republik 1955 durch sowjetische Kommunisten "aufgezwungen" worden sei.

Die Unterstellung, dass es ihm nun einzig und allein darum gehe, sich zu profilieren, ist freilich zu billig. Das Zusammentreffen mit Putin brachte ihm zwar ein CNN-Interview und einen Bericht auf der Titelseite der "New York Times". Geblieben ist aber schon auch dieser Eindruck: Der 49-Jährige war in guter Absicht unterwegs. Gehapert hat es wieder einmal bei der Umsetzung.

Aus dem "Küchenkabinett"

Großes wollen und Großes erreichen sind zwei verschiedene Dinge: An Ambitionen fehlt es nicht beim Kanzler und designierten ÖVP-Obmann. Aber an sehr vielem anderem. Er ist kein Politiker, der einer Masse leidenschaftlich-überzeugend vermitteln kann, was er möchte. Er ist kein Stratege (schon gar nicht auf internationaler Ebene). Er kann sich auch auf kein breit aufgestelltes, erfahrenes Team stützen.

Zu seinem kleinen Beraterstab zählt seine Ehefrau Katharina. Das nützt ihm nicht nur. Es beschert ihm vielmehr den Hinweis, ein "Küchenkabinett" zu führen. Katharina war es auch, die ihn mit dem ehemaligen "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann zusammengebracht hat. Dieser hat zwar beste Kontakte bis hin zu Putin, der ihm bei einem Besuch fürs gemeinsame Schwimmen im Schwarzen Meer einmal seine Badehose geliehen habe, wie er der "Ostsee-Zeitung" anvertraute. An der Seite des Kanzlers bei Missionen zum Ukraine-Krieg ist er aber auch ein Problem. Zumal sich der langjährige Boulevard-Mann, der auch der Volkspartei in strategischen Fragen behilflich ist, selbst gerne mit in den Vordergrund stellt. Auf einem Foto von einem Treffen Nehammers mit den Klitschko-Brüdern ist er ebenbürtig als Vierter zu sehen. Für einen Berater ist das ein No-Go.

Das Ganze lässt tief blicken. Nicht nur, was Karl Nehammer betrifft. Seine Partei, die ÖVP, befindet sich seit vielen Jahren in einem Niedergang. Josef Pröll zählte zu den letzten Vertretern auf Bundesebene, die ernsthaft versuchten, sie neu auszurichten. Die Perspektivengruppe, die er 2007 einrichtete, um das bewerkstelligen zu können, wurde jedoch zu einem "Ideengrab", wie "Der Standard" festhielt. Unter anderem zum Verhängnis wurde Pröll das Bemühen, eine Transparenzdatenbank einzuführen, der alle Leistungen von Bund und Ländern zu entnehmen sein sollten. Das mochten die Landeshauptleute gar nicht, sie legten sich quer.

Sebastian Kurz gab 2017 vor, vieles neu und vor allem besser zu machen. In Wirklichkeit überwogen jedoch Schein nach außen und maximal mögliche Machtausweitung nach innen. Kurz hatte sich von den Landeshauptleuten die Befugnis einräumen lassen, in der Partei schalten und walten zu können, wie es ihm gefällt. Das Ergebnis waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die von der Zentrale in der Wiener City bis zur Funktionärsakademie in Meidling ausschließlich ihm dienten.

Postenschacher rächt sich

In der Regierung war es nicht viel anders: Ministerinnen und Minister waren Kurz'scher "Message Control" unterworfen. In der Regel ließen sie mit sich gewähren. In den Ressorts wurden der Beamtenschaft zudem Generalsekretäre vorgesetzt, Sektionen und Abteilungen wurden umstrukturiert, damit Posten neu ausgeschrieben werden konnten. "Bei der Neubesetzung ging es nicht mehr um irgendwelche Qualifikationen, sondern nur um Loyalität und Nähe", berichtete der ehemalige Präsidialchef im Kanzleramt Manfred Matzka in einem "News"-Interview aus türkis-blauer Zeit. Eine Folge davon ist, dass Beamtinnen und Beamte, die das Nachsehen hatten, die politische Führung aus Rache durchaus genüsslich anrennen lassen.

All das macht Karl Nehammer den Job heute doppelt und dreifach schwer. Er mag - zunächst als ÖVP-Generalsekretär und schließlich als Innenminister - Teil des Systems Kurz gewesen sein. Der Notwendigkeit gerecht zu werden, aufgrund diverser Korruptionsaffären damit abzuschließen und einen Neubeginn zu setzen, wird jedoch nicht einfacher. In der Partei wäre ein größerer, personeller Umbau nötig, in der Regierung wären ein paar eigenständigere, kompetentere Ministerinnen und Minister gefragt, und zu Teilen der Beamtenschaft müsste wieder ein Vertrauensverhältnis entwickelt werden. Nehammer versucht, sich darüber hinwegzuretten, indem er auf PR-Berater setzt.

Bisher hat das nicht zum Erfolg geführt. Die "Krone" berichtete, dass 71 Prozent ihrer Leserinnen und Leser finden, dass sein Treffen mit Putin unvernünftig war. Es scheint sich zu rächen, dass es nicht eingebettet war in eine umfassende und konsequente Politik, die sich den Leuten als sinnvoll und logisch erschließt.

Keine Zeit für Neues

Eine solche Politik braucht Zeit, und die hat Nehammer nicht. Kanzleramt und Partei hat er im Dezember quasi über Nacht übernommen. In beiden Fällen handelt es sich um 24/7-Jobs ohne Gelegenheit, sich Grundsätzliches überlegen, geschweige denn ebensolches angehen zu können.

Der Bedarf wäre enorm - aufgrund der Herausforderungen, die besonders mit dem Ukraine-Krieg einhergehen, und in Bezug auf die ÖVP selbst. Dass sie unter Nehammer auf relativ niedrigem Niveau hinter der Sozialdemokratie zurückbleibt, hat auch damit zu tun, dass das Programm, das ihr unter Sebastian Kurz die großen Wahlerfolge beschert hat, nicht mehr zieht: die restriktive Flüchtlingspolitik. Schon seit Beginn der Corona-Pandemie ist mit ihr nichts mehr zu holen. Alternative? Von der ÖVP gibt es keine. Überlegungen im Hinblick auf den Bundesparteitag Mitte Mai, die Parteifarbe Türkis zu ändern und nicht mehr von der neuen, sondern nur noch von der Volkspartei zu sprechen, werden dieses Problem kaum lösen. Es wäre lediglich Kosmetik.

Noch schlimmer für die Volkspartei und letztlich auch Karl Nehammer ist dies: Landesorganisationen, die immer bei der Farbe Schwarz geblieben sind, geht es kaum besser. In Vorarlberg ist die ÖVP laut einer VN-Umfrage in Folge einer Inseratenaffäre auf 36 Prozent abgestürzt. Ihr Chef, Landeshauptmann Markus Wallner, hatte sie einst bei mehr als 50 Prozent übernommen. In Niederösterreich hat sich Johanna Mikl-Leitner ihren "Miteinander"-Ansatz gewissermaßen selbst durchkreuzt. Und zwar mit ihrer älteren, aber erst unlängst bekannt gewordenen SMS- Botschaft "Rote bleiben Gsindl!". Eine ausdrückliche Entschuldigung bei allen, die sich dadurch beleidigt fühlen könnten, diente allenfalls der Schadensbegrenzung.

Zusätzlich zu schaffen macht Mikl-Leitner die impfgegnerische MFG. Bei der Ärztekammerwahl holte diese zuletzt fast zehn Prozent in Niederösterreich. Ende Jänner gewann sie bei der Gemeinderatswahl in Waidhofen an der Ybbs mehr als 17 Prozent -auf Kosten der ÖVP, die allen Grund hat, nervös zu werden: In spätestens einem Jahr findet die Landtagswahl statt. Deren Ergebnis wird auch Nehammer nicht egal sein können: Für Niederlagen auf regionaler Ebene wird vorzugsweise der Bundesobmann mitverantwortlich gemacht.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at