Wer Nazi ist, bestimme ich

Über die reduzierte Sprache mit historischen Symbolen

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

In der Medizin wird es als 'Aphasie' bezeichnet, die Schwierigkeit bei der Wortfindung, die 'Beeinträchtigung sprachlicher Modalitäten'. In einer reduzierten Sprache, teilweise bedingt durch Social-Media mit begrenzter Anzahl von Wörtern, werden Symbole, die nicht beschrieben und begründet werden, immer wichtiger. Die politische Positionierung eines Gegners, einer Gegnerin, mit einer Ein-Wort-Beurteilung und Verurteilung ersetzte eine wortreiche Analyse. Er oder sie ist ein Nazi, Kommunist, Terrorist, Antisemit, Rassist, Ausländerfeind, ist islamophob, korrupt, menschenverachtend usw. Die Auswahl ist begrenzt, und durch die erschöpfende Wiederholungen haben sogenannte 'Schock-Wörter' ihren Schrecken verloren, wirken oft wie seichtes Kabarett, wenn zum Beispiel heimatliche Vorzeige-Intellektuelle in meist ausländischen Medien Österreich als Musterland einer 'braunen Tradition' beschreiben.

Ausgrenzung

Spitzenreiter zur Verurteilung und Ausgrenzung aus dem demokratischen Dialog ist das Wort Nazi. Der Begriff bietet zwei Vorteile: Erstens muss er nicht erklärt werden, da er historisch verankert ist. Und zweitens verhindert er den demokratischen Dialog - was bedeutet, dass man nicht diskutieren, nicht verhandeln, nicht kooperieren muss.

Die Etikettierung ist allerdings unsinnig, weil im Gegensatz zu anderen ideologischen Uniformen der Begriff Nazi und damit assoziierte Meinungen kreuz und quer definiert werden, außer man reduziert ihn auf das, was er einmal war -die Mitgliedschaft bei der NSDAP. Selbst die Geschichte des Begriffs ist vielschichtig. Kurt Tucholsky hat es als Erster im Zusammenhang mit den Nationalsozialisten erwähnt. 1923 schrieb er: "Die Nazis gingen in ihren Klub ...". Joseph Goebbels veröffentlichte 1927 die Publikation 'Der Nazi-Sozi, Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten'. Er übernimmt das Wort für die Unterstützer der NSDAP, doch in dem Heftchen -das in Form eines Dialogs die Ideen der NSDAP erklärt - kommt das Wort nur im Titel vor. Ursprünglich nannten sich die Mitglieder der Partei 'Naso', was in Bayern nicht gut ankam, und auf Initiative des Journalisten Konrad Heiden auf Nazi geändert wurde.

Das Wort ist allerdings älter als die Partei der Nationalsozialisten und war ursprünglich eine Koseform für den Vornamen Ignaz, wurde später abwertend gebraucht für eine törichte Person. In dem Lustspiel 'Der Schusternazi' von Ludwig Thomas (1905) ist der Begriff ein Symbol für den dümmlichen und einfältigen Helden.

Verwässerung


In den Jahrzehnten nach dem Krieg kam es vor allem in nicht-deutschsprachigen Ländern zu einer inflationären Verwässerung des Begriffs. Verschiedene Formen von Fanatismus wurden mit einer Wort-Kombination verurteilt. In den USA entstand das Wort 'tabacco nazi' für leidenschaftliche Raucher. Oder die 'jazz nazi', die nur ihre eigene Musik liebten, intolerant gegenüber anderer Musik. In Russland gab es 2015 eine Diskussion, ob man jene, die in Social-Media auf Einhaltung sprachlicher Regeln bestehen, 'grammar nazi' nennen dürfe. In die Absurdität gedrängt wurde es in der TV-Show 'Seinfeld', wo ein neurotischer Suppenverkäufer, der in New York die besten Suppen anbot, willkürlich Kunden aus seinem Laden hinauswarf, sie mit Lokalverbot bestrafte, als 'soup nazi' bezeichnet wurde.

Nachkriegszeit

Die politische Bedeutung des Begriffs in der Nachkriegszeit begann bei der Trauerfeier im KZ-Buchenwald. Am 19. April 1945 schworen die 21.000 Überlebenden 'Die Vernichtung des Nazismus' - änderten den Begriff 'Nationalsozialismus' in der Kombination National mit Sozialismus.

Löst man sich von der historischen Bedeutung, so bleibt die Erwartungshaltung an die Umgangssprache, dass mit dem Begriff Nazi eine eindeutige Identifizierung einer Geisteshaltung gewährleistet sei - das tut es aber nicht. Es scheitert bereits daran, dass es heute keine politische Partei, und damit keine Parteifunktionäre gibt, die sich selbst als Nazis bezeichnen würden. Der Begriff kommt daher immer von außen, ist immer negativ und klammert sich an historische Vergleiche.

Wenn es auch heute moderne Kommunisten und Anti-Kommunisten gibt, in Italien eine Neo-Faschistische Partei Erfolg hat und der Anti-Faschismus ein Symbol des Widerstands ist, existiert keine Neo-NS-Partei, die das Wort Nazi integriert.
Damit verliert das Schlagwort 'Nazis Raus' Sinn und Bedeutung.

Aus der Mitgliedschaft einer nicht existierenden Partei wurde ein auf vergangene Ereignisse bezugnehmendes Schimpfwort, das Empörung auslösen sollte - vergleichbar mit der Empörung über die Verbrechen während der NS-Zeit. Die vielfältige Benutzung des Begriffs macht es allerdings den Objekten der Angriffe leicht, durch einen Vergleich mit der Realität des Nationalsozialismus nachzuweisen, dass der Begriff nicht zur Dramatisierung ihres Verhaltens führt, sondern zur Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten.

Ideologie

In diesem Sinne scheitern die Benutzer des Wortes gleich zweimal: Erstens schaffen sie es nicht, durch eine Verbindung zur Ideologie und den Verbrechen der Nazis Wählerinnen und Wähler davon abzuhalten, diese Parteien zu wählen. Und zweitens bieten sie den Betroffenen die Möglichkeit, der oft berechtigten Kritik auszuweichen, wenn sie zurecht verweisen, dass mit der Beschimpfung Nazi die Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert werden.

Argumentativ dreht sich der Angriff und richtet sich gegen den Angreifer wie der Rückstoß eines Gewehrs. Letzten Endes benutzt der Antifaschist die Verbrechen der Nationalsozialisten in einer Auseinandersetzung, ohne die historischen Realitäten zu berücksichtigen. Karen Schönwälder vom Max-Planck-Institut hat das mit einfachen Worten zusammengefasst: "Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ein Nazi."

Moderne Demokratien scheinen überfordert, für neuzeitliche rechte, rechtskonservative und rechtsextreme Bewegungen entsprechende Begriffe zu finden. Die Kritiker reagieren sprachreduziert wie in einem Schockzustand, klammern sich an historische Vergleiche, die willkürlich und zufällig wirken, und stolpern stotternd durch die politische Wirklichkeit.

Demokratie

Politiker, Journalisten, Künstler, Intellektuelle und was sich sonst noch gebildet nennt, finden nicht nur inhaltlich keine Antworten auf den Erfolg politischer Bewegungen des rechten Segments, es fehlt auch die entsprechende zeitgerechte Begrifflichkeit, um dieses überraschende Phänomen zu erfassen. Man windet sich von rechts zu rechtsextrem und rechts-populistisch. Manchmal ist es faschistoid, dann wieder typisch für Nazis, oder Neo-Nazis. Die reduzierte Symbolik ist ein Spiegelbild der inneren Ratlosigkeit zwischen Distanzierung durch Denunzierung und strategischem Verhalten, um Stimmen zu gewinnen.

Wenn Parteien aus den Grenzbereichen der Demokratie die Mittel der Demokratie benutzen, um bei Wahlen erfolgreich zu sein und dies als gefährlicher Angriff auf die demokratische Stabilität erlebt wird, kann nur eine Strategie erfolgreich sein, die sich nicht an der Vergangenheit orientiert. Die Auseinandersetzungen wirken, als ob ein Großvater versucht, seine Enkel mit eigenen Erfahrungen zu überzeugen - den Kritikern fehlen jedoch diese Erfahrungen, sie wirken aufgesetzt und unglaubwürdig.

Wahlverhalten

Letztendlich geht es in der Demokratie um Motive für das Wahlverhalten. Wählerinnen und Wähler von Rechts-Parteien werden nicht aufgrund des Vorwurfs, sich unmoralisch durch ihre Stimmabgabe zu verhalten, ihr Wahlverhalten ändern. Auch der Vorwurf, sie würden Nazis ihre Stimmen geben, hat sie nicht beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit populistischen Parteien muss auf die rationale Ebene zurückgeholt werden. Will man sie zurückdrängen, ihre Wählerinnen und Wähler zurückholen, wird man auf die Selbst-Lüge verzichten müssen, sich als moralisch überlegener Anti-Faschist zu positionieren, nachdem man Gegner willkürlich als Faschisten und Nazis identifizierte.