Die blaue Seite am Ende der Gutenberg-Galaxis

Das Wehklagen um die Halbierung der Texte auf news.orf.at ist eine sentimentale Ignoranz des sich rasant wandelnden Informationsverhaltens. In der Umstellung auf mehr Videos liegt die öffentlich-rechtliche Chance auf eine neue Pioniertat wie vor 25 Jahren

von Medien & Menschen - Die blaue Seite am Ende der Gutenberg-Galaxis © Bild: Gleissfoto

Es war ein Paukenschlag im Finale der Österreichischen Medientage kurz vor Präsentation des ORF-Jahresprogramms: Generaldirektor Roland Weißmann hat die Halbierung der Textangebote auf der blauen Internetseite verkündet und damit auch die eigene Onlineredaktion kalt erwischt. Ihr Protest folgte umgehend mit Unterstützung des Redakteursrats unter Dieter Bornemann. Einige Publikums- und Stiftungsräte schlossen sich an. Dann strafte "Falter"-Herausgeber Armin Thurnher den ORF-Boss und die erfreuten Zeitungsverleger mit Verachtung. Das provozierte Veit Dengler, einst Chef der NZZ-Mediengruppe zu einem Gastkommentar pro Weißmann in der "Presse". Kaum hatte Thurnher auch darauf geantwortet, zündete die (Radio-Direktorin Ingrid) Thurnher via "Standard" die nächste Granate. Titel: "FM4-Zukunft als junges Ö3?"(Antwort: "Vielleicht wird es das. Das weiß man nicht."). Unterzeile: "Mehr Wort, weniger Musik auf Ö1". Die Karawane der kulturellen Empörung zog weiter.

Die frühzeitige Aufregung um die ungelegten Eier in den anspruchsvolleren Radioprogrammen ist berechtigt. Ein offener Brief von Kulturschaffenden bringt es auf den Punkt: Der ORF müsse "nach öffentlich-rechtlichen und kulturellen statt nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien" handeln. FM4 dürfe kein "Ö3 für die Jungen" und Ö1 kein "CNN Radio für Arme" werden. Doch die Entrüstung über den Textabbau auf news.orf. at ist weniger überzeugend. Denn im Gegenzug soll es dort mehr Videos geben. Das entspricht nicht bloß eher dem ursprünglichen Auftrag eines öffentlichen Rundfunks - erst Ton, dann Bild, aber nicht Text -, sondern auch dem Wandel des Mediennutzungsverhaltens: Je jünger das Publikum, desto weniger Schriftlichkeit: Es informiert sich eher durch Bewegtbilder als aus Artikeln.

Das ist ein bedauerlicher und bekämpfenswerter Verlust an Kultur und Tiefe. Doch Marshall McLuhan hat diese Folgewirkung des technologischen Fortschritts elektronischer Medien bereits vor 60 Jahren in "Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters" geahnt und seine Ablöse durch "Das globale Dorf" prophezeit. Die vorerst schleichende Entwicklung wird durch Social Media rasant. Sie aufhalten zu wollen, ist ehrenhaft und lobenswert, aber ein Kampf gegen Windmühlen. Die Verteidiger von 120 statt nur 60 Textmeldungen pro Tag auf news.orf.at argumentieren mit dem demokratiepolitischen Wert des frei zugänglichen niederschwelligen Angebots. Doch nach Bedürftigen der Niederschwelligkeit klingt der Protest nicht. Könnte es sein, dass diese am schnellsten dem Jugendtrend zum bewegten Bild gefolgt sind? Vergleichende Nutzungsstatistiken zu digitalen Angeboten legen diesen Schluss ebenso nahe wie das Treiben in jenen Social Media, deren geschickte Nutzung durch Florian Klenk eine Ursache für den zugleich enormen wie plötzlichen Aufschwung des "Falter" nach seinem 30. Lebensjahr ist.

Neben der Wehmut um das geschriebene Wort gibt es also gute Gründe für die formale Verschiebung des Schwerpunkts der blauen Seite. Und sie haben nicht nur mit den Geschäftsinteressen der Verleger zu tun, deren digitale Bezahl-Angebote unter Wettbewerbsverzerrung durch Rundfunkgebühr leiden. Als ORF ON 1997 unter Franz Manola gestartet ist, war der Artikeleinstieg über die Fotos eine Revolution zur Benutzerfreundlichkeit. Seitdem hat die blaue Seite ihren äußerlichen Vorsprung an Klarheit, Aufgeräumtheit und Usability ungeachtet aller Zwänge zum responsiven Webdesign (für unterschiedliche Endgeräte) und der Instagramisierung von Bildinformation behalten. Das Beharren auf Text ist die falsche Reaktion einer Redaktion, die ungeachtet der Reduktion des geschriebenen Wortes ausgebaut wird. Sie hat unter dem früheren TV-Journalisten Christian Staudinger mit Umstellung auf mehr Videos die Chance auf eine Pionierleistung wie vor 25 Jahren. Wer demokratiepolitisch wichtige niederschwellige Informationen bieten will, muss sie heute via Bewegtbild vermitteln. Der Widerstand ist Sentimentalität der schwindenden Eliten aus der Gutenberg-Galaxis (die auch hier ein Refugium hat).