Der Politikerklärer
als Fußballanalyst

Wir genießen die Ablenkung. Erst einen Tag nach dem Euro-Finale endet die Frist von Sebastian Kurz: „In 100 Tagen kann sich jeder impfen lassen.“ Bis dorthin agiert Peter Filzmaier in einer Fernsehdoppelrolle als Politikwissenschaftler und Fußballanalyst.

von Medien & Menschen - Der Politikerklärer
als Fußballanalyst © Bild: Gleissfoto

ÖVP, SPÖ, FPÖ, Grüne oder Neos? Nein: Frankreich, Deutschland, England, Spanien oder Belgien? Und Österreich darf auch mitspielen. Die Innenpolitik gerät einen Monat früher als saisonal üblich in den Windschatten der Freizeitgestaltung. Denn vom 11. Juni bis 11. Juli gilt das Hauptinteresse der Fußball-Europameisterschaft. 2016 sorgte sie mit den Österreich-Spielen für die drei meistgesehenen Fernsehsendungen des Jahres. Noch vor der Bundespräsidentenwahl. Die Hälfte der top 14 ging damals auf das Konto der Euro. So wie 2018 die Kicker-WM sogar die Skiweltcuprennen ausstach. Erst Ibiza und Corona brachten 2019 und 2020 die Hierarchie der Bildschirminteressen durcheinander.

Die Wiederherstellung der alten Ordnung wird infolge anhaltender Pandemie auch heuer schwierig, aber zwei sind auf jeden Fall Gewinner in diesem Quotenmatch zwischen Politik und Sport: der ORF und Peter Filzmaier. Für den Wissenschaftler stehen neben den Juni-Parteitagen von Grünen, Neos, FPÖ und SPÖ auch 20 Euro-TV-Magazine auf dem Programm. Er wird politische und mediale Aspekte des Fußballfestes analysieren. Das ist seit seinem Sportbuch „Atemlos“ keine Sensation, aber doch ein gewisses Risiko für seine Instanz. Denn Mehrfach-Expertisen sind schwer vermittelbar. Das muss aber nicht unbedingt am Publikum liegen, sondern könnte auch ein Vorurteil der Medienmacher sein.

Filzmaier weiß das sehr genau. Anfangs scheute er Medienpräsenz abseits seiner ursprünglichen Spezialgebiete USA und Internetdemokratie. Es bedurfte sanfter Überredung durch Journalisten, dass er sich auch auf die wesentlich intensiver berichtete Innenpolitik einließ. Von der akademischen Welt durchaus argwöhnisch beobachtet, entfaltete er dabei seine außergewöhnliche Fähigkeit zu gleichermaßen verständlicher und pointierter Analyse. Er setzt perfekt die Theorien der Medienlogik in eigenes Handeln um. Das gilt sowohl für TV- und Radioauftritte wie auch für seine Zeitungstexte. (Zur Transparenz: Wir sind seit Jahrzehnten befreundet und haben Tausende Laufkilometer gemeinsam absolviert.) Dadurch hat er sich zu einem Erklärer der Nation entwickelt, wie es davor wohl nur der Journalist Hugo Portisch war. Aber durchaus mit einem Wermutstropfen: Seine Expertise zur amerikanischen Politik ist trotz regelmäßiger Studienreisen in die USA kaum noch gefragt. Medien fördern immer mehr das Spezialistentum. Ein Portisch für alles wäre heute nicht mehr möglich.

Vielleicht ist deshalb für Filzmaier sein Spielbein noch bedeutender, als es das Pilzesammeln für den Altmeister war. Selbst früher ein herausragender Läufer, verfügt er zu zahlreichen Sportarten über geradezu enzyklopädisches Wissen. Fußball gehört dazu. Wer dem Facebook- oder Twitter-Account @PeterFilzmaier folgt, erhält eine kleine Ahnung von diesem Repertoire. Er verblüfft dabei mit den gleichen Stärken wie in den politischen Analysen: enormes Zahlen-und Faktengedächtnis in Verbindung mit der Fähigkeit zu spontaner Datenverknüpfung. Spannend wird bei seinen Fußballeinschätzungen, wie sehr er sich auch in diesem Gebiet auf verbale Zuspitzung einlässt – und wie solch allfällige Wuchteln beim Sportzuschauer ankommen. Ein Balanceakt. Treibt er es zu weit, kann er mit solchen Bemerkungen seinen Status als seriöser Politikwissenschaftler beschädigen. Er reizt diesen Spielraum schon im angestammten Metier ziemlich aus: vom letztlich erst durch den Verfassungsgerichtshof als zulässig bewerteten Plemplem-Sager über Frank Stronach bis zur rhetorischen Frage an Sebastian Kurz, „was der Kanzler in diesem Jahr beruflich eigentlich gemacht hat“. Das sichert ihm einerseits eingeschworene Fans, zum anderen deutliche Ablehnung, aber immer enorm viel Aufmerksamkeit.

Filzmaiers Analysen von Wahlkampfduellen hatten mehr Publikum als diese selbst. Das ist eine hohe Latte für seine Fußballanmerkungen. Aber vielleicht findet der ORF damit schon eine Geheimwaffe für die Euro 2024 und 2028. Dann hat ServusTV die Übertragungsrechte – aber keinen Filzmaier.