Warum Liebe die Welt ist, kein Gefängnis

Neulich sagte eine Verkäuferin in meiner Lieblingsbäckerei: "Heute kann Liebe auch auf Distanz funktionieren. Früher war man noch verpflichtet, als Paar aufeinander zu picken." Und gab mir statt der bestellten Schokoschnecke versehentlich ein Honigreingerl.

von LIEBES LEBEN - Warum Liebe die Welt ist, kein Gefängnis © Bild: Nathan Murrell

Eine Freud 'sche Fehlhandlung der Bäckereifachangestellten, würde der Tiefenpsychologe vermuten. Unbewusst motiviert, aber umso aussagekräftiger. Schnecken symbolisieren nach Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, das weibliche Geschlechtsorgan. Schnecke, Muschelgehäuse, Vagina. Freud setzte bekanntlich in der Behandlung seiner Klientel ganz auf die freie Assoziation. Was fällt Ihnen zum Thema Schokoschnecke ein? Mir meine Kindheit, als ich solch Backwerk von meiner Omama bekam. Meine Großmutter väterlicherseits war als Bauernmädchen vom Land mit dem Opapa, einem Volksschuldirektor, mehr oder weniger ungewollt und zufällig nach Graz gekommen. Offenbar war damals noch unvorstellbar, zu sagen, geh du nur in die Stadt, ich bleibe hier. Oder als Kompromiss: Gut, aber lass uns pendeln. Denkste! Wir unterschätzen möglicherweise die Beziehungsformen unserer Ahnen. Denn mein Opapa war in erster Ehe mit einer Frau verheiratet, deren schweres Lungenleiden schon damals eine Fernbeziehung bedingt hatte. Sie war im milderen Klima des Südens, er in der Obersteiermark. Das ging. Und wie!

Die Vorstellung, Liebende müssen zeitlebens aufeinander picken entstammt möglicher Weise der Grimm'schen Märchentradition, nach dem Motto: "Dann lebten sie glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Aber wie glücklich und zufrieden? Konfliktfrei und ineinander vernarrt wie noch am ersten Tag? Dass sich Beziehungen pulsierend verändern, blubbernd wie Geysire, möchte ich an folgendem Beispiel aus meiner Paartherapie-Praxis zeigen: Jens und Michaela sind in der ersten Verliebtheitsphase schier unzertrennlich. Doch irgendwann wird es zu viel, und sie gehen auch manchmal eigene Wege. Sie beginnt wieder, mit Freundinnen nicht nur auszugehen, sie teilt auch ihre Frustration über die mutmaßliche Abkühlung in ihrer Beziehung mit ihnen. Statt mit Jens. Und beide fühlen sich unverstanden. Und weiter?

Bei diesem Paar und bei vielen anderen funktioniert etwas nicht: die Regulation von Nähe und Distanz. Nun die gute Nachricht: Aus dem Schachbrettmuster Ihrer Beziehung können Sie jetzt und heute aussteigen, indem Sie etwas tun, und dreimal dürfen Sie jetzt raten, was. Richtig! Reden Sie. Und zwar nicht nur mit Ihren Kumpels oder Freundinnen, sondern mit ihr beziehungsweise ihm. Ihrem Herzensmenschen. Es gibt keinen Grund der Welt, Ihren Partner oder Ihre Partnerin aus Ihrem Gefühlsleben zu exkommunizieren, nur weil das liebe Leben weitergeht. Die Liebesgefühle können auch über große räumliche Entfernung nicht nur aufrecht bleiben, sondern sich erst richtig entfalten. Und auch wenn der Partner seinen vor Ihnen schon dagewesenen Interessen nachgeht. Wichtig: Nicht jeder Mensch benötigt gleich viel Nähe. Nicht jeder Mensch braucht gleich viel Raum für sich. Das ist wie in der Botanik, wo es auch gewisse - und nicht nur -Nachtschattengewächse gibt, die von zu viel Liebe, Licht und Wärme bedroht werden. Daher lassen Sie Ihren Partner bewusst auch mal in Ruhe, ohne Verlustängste und Eifersucht. Nichts hat immer nur so und so zu sein. Schon gar nicht die Liebe!

Das wussten schon unsere Großeltern, nur engt Sie ein ultimatives Luftschloss der Liebe, wo man nie genug voneinander bekommt, in Ihrer Selbstentfaltung ein. Darum assoziieren Sie mit wahrer Liebe bitte ab sofort kein Gefängnis, in dem sie sich einschließen und auf den Rest der Welt verzichten müssen. Bitte Nein! Die Liebe ist doch die Welt, manchmal außen klebrig wie ein Honigreingerl, aber innen fluffig und süß wie eine Schokoschnecke, mit Windungen im Gehäuse, ungeahnten Wegen, Möglichkeiten, Werten, die zusammenschweißen. Und hoffentlich wird die Nähe in der Liebe nicht überdosiert, sonst schlägt sich auf den Magen wie zu viele Honigreingerln.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
Haben Sie noch Fragen? Schreiben Sie mir bitte: praxis@wogrollymonika.at