Wie ist es, den Höhepunkt nur vorzuspielen?

Viele jagen fast zwanghaft dem ultimativem Orgasmus nach. Der sexuelle Höhepunkt ist sicher ein schönes Erlebnis. Aber es gibt noch viel Schöneres.

von Liebes Leben - Wie ist es, den Höhepunkt nur vorzuspielen? © Bild: Nathan Murrell

Noch immer ist Glück beim Sex in unseren Köpfen an den Orgasmus gebunden. Und nicht nur das. Ein Mann, der seinen Mann steht, ist unausgesprochen buchstäblich darauf scharf, dass eine Frau durch ihn zum ultimativen Höhepunkt kommt. Aber am besten bitte mehrmals, seriell und multipel. Sowohl vaginal als auch klitoral und durch Stimulation des G-Punktes. Und am besten noch in einem universalen Mix aus sämtlichen weiblichen Orgasmus-Varianten. Statt Lust und sexuelles Glück nur Frust und Orgasmus-Stress. Genauer gesagt: sexueller Leistungsdruck. Und Stress ist etwas, das wir beim Liebesspiel so gar nicht gebrauchen können.

Alfred (77) spricht mich nach meinem Vortrag über sexuelle Funktionsstörungen auf dem Parkplatz vor dem Seminarzentrum an. "Ich muss Sie was fragen: Wie kann ich wissen, ob meine Frau seit 45 Jahren den Orgasmus nur vortäuscht?" Der beunruhigte Mann scheint von der Vorstellung gequält zu sein, dass all die gemeinsamen sexuellen Höhenflüge am Ende nur von seiner Gattin wie im Film "Harry und Sally" inszeniert worden seien; nicht, weil er sie befriedigt hat, sondern um ihn zufriedenzustellen. "Sie ist wirklich immer feucht beim Sex", beteuert Alfred und sieht mich entgeistert an: "Da kann das doch gar nicht gespielt sein, oder?" Ich antworte, dass seine Frau garantiert sexuell erregt sei und dass das Feuchtsein bei einer Frau doch schon ein sicherer Hinweis für echte Empfindungen sei. In diesem Moment frage ich mich, was ich hier rede inmitten von Menschen auf einem Parkplatz, die nicht wissen, dass soeben ein einschlägiger Vortrag über Sexualtherapie hinter mir liegt und ein Zuhörer nur eine ganz normale Frage an mich richtet. "Bitte machen Sie sich keine Gedanken. Wenn Männer eine Erektion haben, ist das ja auch ein Zeichen von echter sexueller Lust", vollende ich den Beschwichtigungsversuch, mit dem ich nicht nur Alfred, sondern allen Menschen mit meinen Büchern und Vorträgen den Druck nehmen möchte. Diesen jeder sexuellen Interaktion, um es mal so zu nennen, innewohnenden Leistungsdruck, den Partner zielsicher zum Klimax zu bringen. Orgasmus-Glück.

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Früher, und damit meine ich die Zeit um die Dreißiger-und Vierzigerjahre, ging es in Mitteleuropa nicht um den Höhepunkt der Frau, sondern eher um die Bedürfnisbefriedigung des Mannes. Daher existierten damals weniger sexuelle Funktionsstörungen psychischen Ursprungs. Wenn sie bei ihm "nicht kam", fühlte er sich nicht dafür verantwortlich. Es ging nicht um ihre Lust, sondern darum, dass er auf seine Kosten kam und sie die eheliche Pflicht erfüllte. Die Ejaculatio praecox, der vorzeitige Samenerguss, war noch kein Schreckgespenst wie heute. Was passiert? Immer mehr Männer gehen in ein Vermeidungsverhalten: Sie verzichten auf Sex, aus Angst, die Frauen nicht zu befriedigen.

Und die Frauen? Auch sie setzen sich unter Druck, unter der Penetration des Mannes orgiastisch zu sein. Sie wollen dem Mann damit den Nachweis erbringen, dass er Mr. Right ist und sie in Ekstase versetzt. Mein Rat: Lassen Sie bitte den Druck weg. Legen Sie es nicht auf den ultimativen Orgasmus an. Und zerfasern Sie Ihr Sexleben nicht, indem Sie einen Wettkampf daraus machen und die Qualität Ihrer Orgasmen im Verhältnis zur Libido-Kurve evaluieren. Lassen Sie sich beim Sex möglichst "fallen" und entspannen Sie sich. Schalten Sie endlich einmal Ihren Kopf aus. Erst dann kann ihr Liebesleben, wie die heutige Jugend sagt, Vibes haben. Und dieser Flow ist viel schöner als jeder vorgetäuschte oder mühsam erjagte Höhepunkt. Versprochen.