Ist Intimität mehr als Sex?

Gelegenheitssex, One-Night-Stand oder die wahre innige Liebe? In meiner Praxis erkläre ich Menschen den Unterschied. Kennen Sie ihn? Ich bin mir sicher, ja.

von Dr. Monika Wogrolly © Bild: Matt Observe/News

Viele erwarten sich in einer Partnerschaft einen ultimativen Erregungszustand oder multiple Orgasmen als Gütesiegel ihrer eigenen Wertigkeit. Und, ja, ganz so einfach ist das auch nicht. Der Unterschied zwischen gutem Sex und einem erfüllten Liebesleben. Wenden wir uns ein paar Fragen zu, um uns einer Antwort anzunähern. Warum nicht direkt Ratschläge erteilen? Im antiken Griechenland war das als Mäeutik oder Hebammenkunst bekannt, mit Fragen Lösungen zur Welt zu bringen. Fragen fördern den selbstständigen Nachdenkprozess und mobilisieren Ressourcen. Das führt zur dauerhaften Verinnerlichung mit einer positiven Folgewirkung auf das Liebesleben. Aber arbeiten wir uns kurz durch meinen Fragenkatalog und geben Sie sich selbst spontan und ungeschönt (ohne lang zu grübeln) nicht die einzig richtige, sondern die jetzt und hier stimmige Antwort.

Was bedeutet Ihnen Sex? Anders gefragt: Welche Wirkung suchen Sie speziell beim Sex? Beispiele eines wünschenswerten Fokus sind – neben dem biologischen Motiv der Fortpflanzung und der sexuellen Befriedigung – der Entspannungsfaktor und das Wohlbefinden der anderen Person sowie auch das eigene Wohlbefinden. Wichtig: keinen Orgasmus-Stress auf bauen. Sex ist kein Leistungssport und darf auch, soll aber bitte nicht nur der Selbstbestätigung dienen. Dar an schließt sich Frage: Was ist für Sie „guter Sex“? Und woran erkennen Sie, dass es sich um „schlechten Sex“ gehandelt hat? Wann und wie sprechen Sie in Ihrer Partnerschaft über sexuelle Wünsche und prägende Erfahrungen? An diese grundsätzlichen Fragen möchte ich nun noch meine wichtigsten Erkenntnisse nach Tausenden Gesprächen mit den unterschiedlichsten Paaren im Setting einer Paar- und Sexualtherapie anschließen:

Warum es in langjährigen Beziehungen häufig an echter Nähe mangelt, hat vielerlei Gründe: Wahre Liebe und Intimität sind heute wohl eher bedrohlich und surreal als zum Inbegriff des Glücks geworden. Heute nehmen neben dem modern gewordenen Individualismus Bindungsstörungen rasend zu. Man hat Angst vor dem Verlassen-Werden, will sich absichern und „selbstbestimmt und unabhängig“ sein. Und setzt sein Glück daher bevorzugt auf die À-la-carte-Variante im Liebesleben. Man kostet sich lieber durch, statt sein Stammlokal aufzusuchen. Verzeihen Sie die Assoziation: Aber Stammlokal und beständige Liebe halten im Unterschied zu Drive-in und One-Night-Stand folgende Werte bereit: Beheimatung, Vertrautheit und schier unendliche Möglichkeiten eines (unbezahlbaren) Gefühls von „Hier kann ich sein. Hier bin ich mir sicher, was ich finden kann“.

Ein zuverlässiges „Gefühl des Ankommens“ empfehle ich einem schnellen orgiastischen Kommen jedenfalls vorzuziehen. Dann haben Sie mehr, ja sogar viel mehr davon. Den Unterschied macht, bezogen auf die Einserfrage im Fragenkatalog, der Antrieb aus: Sex nicht nur als periodischen Kick fürs Ego zu suchen oder, auf die Gastronomie-Metapher umgelegt, ein neues Geschmackserlebnis anzustreben, sondern Intimität zuzulassen. Und sich Gewohnheiten, Routinen, Rituale bewusst miteinander zu schaffen und sexuelle Abstinenzzeiten zu erlauben. Dann finden Sie in Ihrem Liebes leben das, was wirklich befriedigt: ein erfüllendes Zusammensein in gegenseitigem Respekt, mit Wohlwollen und Interesse aneinander. Und ohne Ablaufdatum.