"Künstliche Intelligenz? Das Copyright auf Brunetti habe ich"

Der charismatische Commissario Guido Brunetti aus Venedig zählt seit 30 Jahren zu den beliebtesten literarischen Ermittlern. Donna Leon, seine amerikanische Schöpferin, über ihren Kommissar, Gendern, Klimawandel und Joe Biden

von Donna Leon © Bild: Regine-Mosimann

Commissario Guido Brunetti soll für seinen Schwiegervater herausfinden, ob der Palazzo Zaffo dei Leoni verkauft wird. Auskunft erhofft er sich vom Diener der Besitzer, einem gebürtigen Sri Lanker, der das Gartenhaus auf dem Anwesen bewohnt. Doch der höfliche Mann weiß nichts von einem Verkauf. Wenige Tage nach Brunettis Besuch wird er tot in einem Kanal aufgefunden. Commissario Brunetti ermittelt seinen 32. Fall, "Wie die Saat, so die Ernte".

Wir erreichten dessen Schöpferin, die charismatische, heute achtzigjährige Amerikanerin Donna Leon, in ihrem Schweizer Domizil in Graubünden.

ZUR PERSON
Donna Leon wurde am 28. September 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Sie unterrichtete Englisch an Universitäten in China, Saudi-Arabien und im Iran. 1992 erschien Brunettis erster Fall, "Death at La Fenice" ("Venezianisches Finale"). Die ARD verfilmte 26 Folgen, erst mit Joachim Król, dann mit Uwe Kockisch. Donna Leon lebte einige Jahre in Venedig und seit rund 14 Jahren in einem Dorf in Graubünden in der Schweiz.

Donna Leon
© imago images / Agencia EFE

In "Wie die Saat, so die Ernte" geschieht der Mord erst nach mehr als hundert Seiten. Der 32. Fall von Commissario Brunetti ist primär ein gesellschaftskritischer Roman und erst in zweiter Line Krimi. Stimmt mein Eindruck, dass das Verbrechen in Ihren Romanen immer mehr zu einer Art Nebenprodukt wird, um von den Problemen der Menschen dieser Stadt zu erzählen?
Ja, ich denke schon. In diesem Roman passiert alles zufällig. Brunetti klopft an eine Tür, ein Mann aus Sri Lanka öffnet ihm, und ein paar Tage später ist der tot. Als Brunetti dann bei seinen Ermittlungen das kleine Gartenhaus dieses Mannes betritt, ist er überwältigt davon, wie ordentlich dort alles ist, wie friedlich. Der Ermordete war ein guter Kerl. Er hatte nichts mit Prostituierten zu tun und handelte nicht mit Waffen. Brunetti fragt sich zunächst zu Recht, warum so ein Mensch ermordet wird. Ich denke, auch der Leser stellt sich die Frage: "Warum der?"

Wir kennen Brunetti als vorbildlichen Familienvater. In diesem Roman stellen Sie auch den belesenen Brunetti vor. Zu Beginn des Romans treffen wir ihn vor seinem Bücherregal an. Er will Platz für neue Bücher schaffen und trennt sich von der mehrbändigen Ausgabe von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Wie ist das zu verstehen? Als symbolischer Akt?
Nein. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich lasse gern etwas in meine Bücher einfließen, das ein Publikum von Lesern amüsiert. Jeder, für den Lesen unverzichtbar Teil eines anständigen Lebens ist, war doch schon in so einer Situation. Diese Erfahrung machen alle, die lesen. Jeder musste sich zuweilen von Büchern trennen. Es ist in Ordnung, wenn man in einem solchen Fall ein Buch an jemanden anderen weitergibt, weil das Buch damit noch immer am Leben bleibt. Das bleibt es auch, wenn man es einem Antiquar anbietet. Man soll ein Buch aber nicht verschwinden lassen.

Sie meinen wegwerfen?
Man gibt es weiter. Auch ich muss manchmal Bücher weggeben, hauptsächlich deshalb, weil ich mehr Platz brauche. Regale wachsen ja nicht. Ich gebe dann jene Bücher weg, von denen ich weiß, dass ich sie nicht mehr lese, oder jene, von denen ich schon wusste, dass ich sie nicht lesen würde, als ich sie gekauft habe. Ich trenne mich auch von Büchern, die ich nicht mag. Mit Büchern ist es wie mit Untermietern. Man hätte gern einen netteren. So ist das auch bei Brunetti. Deshalb gibt er auch "I Promessi Sposi" weg.

Sie meinen "Die Verlobten", den Klassiker von Alessandro Manzoni?
Das ist in Italien Schullektüre. Als ich meinen italienischen Freunden erzählt habe, dass ich diesen Roman auf Italienisch gelesen habe, sagten sie nur: So ein Schinken. Das ist wirklich wie eine Soap Opera. Wenn ich so etwas wie Brunetti und seine Bücher in meinen Roman einfließen lasse, weiß ich natürlich, dass das nichts zur Handlung beiträgt, aber es amüsiert uns doch.

Sie haben dieses Buch einem Ehepaar namens Trapp gewidmet. Sind das Nachkommen der Trapp-Familie, die vor den Nazis geflohen ist und durch den Film "Sound of Music" in Amerika bekannter sind als in Österreich?
Die sind von einem anderen Zweig der Familie. Die beiden sind alte Freunde von mir. Sie leben in Kanada. Cecily ist gebürtige Österreicherin. Ich bringe ihr immer Bücher mit, wenn wir einander im Sommer sehen, und sie gibt die dann ihren Freunden in Innsbruck weiter.

»Homosexuelle sind besser gekleidet, und wenn es um Oper geht, haben sie den besseren Geschmack«

Ein zentrales Thema im aktuellen Roman ist Diversität, konkret der Umgang mit Homosexuellen in Italien. Alvise, ein Polizist, der seit Jahren bei Brunetti in der Questura seinen Dienst versieht, wird in Treviso bei einer Demonstration von Homosexuellen verhaftet. Niemand aber hat gewusst, dass der brave, sympathische Kollege schwul ist. Auch Brunetti nicht. Ist die Geschichte von Alvise Ihre Antwort auf die Forderungen nach Diversität? Oder reagieren Sie damit auf die rechte Politik in Ländern wie Ungarn, Polen und jetzt auch in Florida, die diesen Menschen das Leben schwer macht?
Nein, betrachten Sie diesen Roman mit musikalischen Maßstäben. Zuerst kommt die Ouvertüre, dann folgt eine lange Passage, in der es um Intoleranz gegenüber dem Verhalten anderer Leute geht. Dieser Erzählstrang zeigt eine Figur, die es schon lange in meinen Romanen gegeben hat. Jeder mochte diesen Mann. Jeder wusste, dass Alvise ein guter Kerl ist, nicht sehr intelligent, aber mutig, anständig und gerecht, motiviert und stets hilfsbereit. Dann entdeckt man plötzlich, dass dieser nette Mensch schwul ist. Jeder, der Vorurteile gegen diese Menschen hat, ist jetzt plötzlich mit der erschreckenden Tatsache konfrontiert, dass etwas, das vom Teufel kommt, sich in diesem Mann, den er mag, manifestiert. Da fragt man sich: Wie ist das möglich, dass der einer dieser Kreaturen ist? Im Roman findet einer dieser Erz-Homophoben in der Questura heraus, dass Alvis' Vater ein Mann von grenzenloser Großzügigkeit war. Ich zeige nur auf, ich kommentiere nichts. Aber ich will am Beispiel von Alvis vorführen, wie das ist, wenn man herausfindet, dass einer seiner Freunde einer Gruppe angehört, die man selbst nicht tolerieren will, weil man von den Eltern, der Familie und von anderen Freunden gehört hat, dass diese Leute schlechte Menschen sind und in die Hölle kommen. Ich hoffe, dass Leute, die das Buch lesen und so denken, nachher sagen, Mensch, die sind doch wie wir. Doch einen Unterschied gibt es. Homosexuelle sind besser gekleidet, und wenn es um Oper geht, haben sie den besseren Geschmack.

Donna Leon
© imago/Agencia EFE REFLEKTIERT. Donna Leon mahnt, Gendern nicht wichtiger zu nehmen als eines der zentralen Probleme, den Klimawandel

Die Fragen nach Diversität polarisieren derzeit extrem. Auf der einen Seite stehen jene, die das überall fordern, auch in der Kunst, auf der anderen treten Leute wie Ron de Santis in Florida oder die Rechten in Europa dagegen auf. Egal, in welchem Lager, aus welcher Sicht, diese Themen sind derzeit zentral. Warum ist das so?
Dieses Theater, ich verwende hier ausdrücklich den Begriff "Theater", das über Gendern und Diversität und das alles gemacht wird, lässt die Leute Essenzielles, zum Beispiel den Klimawandel, um nur eines der zentralen Probleme unserer Zeit zu nennen, vergessen. Denn die ganze Aufmerksamkeit wird auf etwas gelenkt, das uns nicht umbringen wird, das unseren Planeten nicht zerstören wird und unser Leben nicht grundlegend verändern wird. Angesichts des weltweiten Artensterbens sind diese Themen doch nicht so wichtig. Aber ich bin monoman auf ein Thema fokussiert, und das ist die Ökologie. Ich denke, Sie haben sicher schon von Global Footprints gehört. Ich nehme den Zug, nicht das Flugzeug, um meine Global Footprints zu verringern. Ich habe auf Wikipedia gelesen, dass der Begriff Global Footprints von BP (British Petrol, Anm.) stammt.

Das war im Zuge einer Werbekampagne, um von den Umweltschäden, die das Unternehmen anrichtet abzulenken?
Warum soll BP denn richtig gesinnte, vernünftige Menschen, so weit bringen, dass sie sagen, sie hätten etwas für die Umwelt getan, während BP den Golf von Mexiko zerstört? Es ist erschreckend, wie klug diese Konzerne sind.

»Diese Kids, die sich an der Autobahn festkleben, schaden doch niemandem«

Was sagen Sie zu den Klimaprotesten? Haben Sie Verständnis für diese Leute, die sich an der Straße festkleben?
Ich kann deren Gedanken nachvollziehen, aber ich betone ausdrücklich noch einmal, dass ich, was das Thema Umwelt anlangt, monomanisch bin. Ich denke, was die mit ihren Protesten machen, ist nur der Anfang. Diese Kids, die sich an der Autobahn festkleben, schaden doch niemandem. Alles, was sie machen, ist das Leben kurzfristig unangenehm. Jene, die den Regenwald abbrennen, die Luft verschmutzen, verursachen viel mehr Schaden als diese Kids. Was kann denn schon passieren, wenn die demonstrieren? Man versäumt ein Flugzeug, aber man ist immer noch am Leben. Die Unternehmen aber bringen uns um.

Es wäre doch sinnvoller, wenn sich die Proteste gegen neue Straßen, die erst gebaut werden sollen, richten.
Das sind Entscheidungen, die in einer Demokratie getroffen werden, da geht es nach dem Willen der Leute. Die wollen günstige Transporte, die wollen Auto fahren. Aber ich gebe Ihnen Recht.

Aber niemand kann den Klimawandel leugnen, wenn man die Bilder aus New York, sieht, das im Smog versinkt.
Die Menschen haben eine unglaubliche Fähigkeit, Dinge zu ignorieren oder sie abzumildern. Wenn sie so etwas sehen, sagen sie, das kann doch nicht so schlimm sein.

Wäre es nicht nach mehr als 30 Fällen an der Zeit, dass Sie Ihre Romane auch auf Italienisch erscheinen lassen? Oder haben Sie Bedenken wegen kultureller Aneignung?
Nein, vor Jahren - damals war ich noch eine junge Frau - traf ich auf zwei ältere Damen. Beide sprachen nur den örtlichen Dialekt. Sie kamen auf mich zu und fragten mich, warum ich über Korruption und all diese schlimmen Dinge in Italien schreibe. Sie sagten, Italien habe mich doch so gut aufgenommen. Dann warfen sie mir vor, dass es in allen meinen Büchern nur um Mord und Korruption in Italien gehe. Ich, die Ausländerin, schreibe schlecht über Italien. Ich fragte sie, welches Buch sie meinten. Sie sagten: alle. Ich wollte wissen, welches sie denn verletzt hätte. Sie sagten, sie hätten einen Artikel in "Il Campo" gelesen, der von einer Amerikanerin berichtet, die Krimis in Venedig schreibt. Viele meiner italienischen Freunde hatten schon meine Bücher auf Englisch und in anderen Sprachen gelesen. Aber ich wollte keine falschen Anschuldigungen.

Im Grunde sind Ihre Romane doch eine Hommage an Venedig, an Italien, das würden diese Leute dann doch erkennen, wenn sie die auf Italienisch lesen.
Ich bin mir sicher, dass das nicht funktioniert.

Donna Leon
© imago images / Agencia EFE AUTORIN MIT HANG ZUM BESONDEREN. Donna Leon, 80, ist eine der erfolgreichsten Kriminalschriftstellerinnen der Gegenwart

Hat sich Ihr Verhältnis zu Brunetti über die Jahre verändert?
Das nicht, aber meine Altersgruppe. Die ist jetzt weniger optimistisch als vor 50 Jahren, und Brunetti trifft deshalb seine Entscheidungen langsamer wie die meisten Leute meines Alters. Man ist reflektierter.

Sind Sie noch amerikanische Staatsbürgerin, und dürfen Sie überhaupt noch in den USA wählen, nachdem Sie schon so lange im Ausland leben?
Ja, natürlich. Ich muss meiner Mutter gehorchen. Sie lehrte mich: Donna, wenn du jemals einen Republikaner wählst, kommst du in die Hölle, und sie hatte Recht, ich bin immer noch da.

Sie wurden vergangenes Jahr 80, das heißt, Sie sind wenige Jahre jünger als Joe Biden. Finden Sie es richtig, dass er für eine zweite Amtsperiode als Präsident kandidiert?
Ja, er ist ein Mann mit Prinzipien, ein vernünftiger Mensch, intelligent, er ist ein echter Politiker, der das System kennt. Er manövriert sich sehr elegant durch die Opposition, denn die Republikaner halten ihn für einen Unhold, aber er macht nichts Schlechtes. Man kann ihm nichts anhaben. Wen gäbe es denn sonst noch? Aber vielleicht kommt in einem Jahr noch jemand anderer.

Was halten Sie von Kamala Harris?
Von ihr hört man doch gar nichts. Ist das immer so bei den Vizepräsidenten? Das war doch auch für Mike Pence normal, der war fast während seiner ganzen Amtszeit unsichtbar.

Aber er taucht jetzt wieder auf.
Jetzt sagt er, dass Trump nicht ins Präsidentenamt gepasst hat. Das hätte er schon vor Jahren sagen sollen, denn er wusste es damals schon. Jetzt plötzlich will er sich einen Heiligenschein aufsetzen. Ach, diese Leute machen mich krank!

Commissario Brunetti wurde 16 Jahre von Uwe Kockisch in der deutschen Fernsehserie dargestellt. Sieht ihr Ermittler für Sie jetzt auch so aus wie der Schauspieler?
Ich bringe niemanden mit ihm in Verbindung. Ich sehe einen gut gekleideten Italiener mittleren Alters vor mir.

Kommen Sie wieder nach Wien?
Sehr gern, schon wegen der Oper. Eines der besten Häuser ist in Wien.

Alle reden heute über künstliche Intelligenz. Kann KI ihrer Meinung nach eine Gefahr für Schriftsteller werden? Trauen Sie einer KI zu, dass sie Brunetti-Krimis schreibt?
Jeder könnte das, nur müsste man sie anders nennen. Denn das Copyright auf Brunetti habe ich.

Das neue Buch von Donna Leon
Aus einem Kanal ragt eine Hand. Der Ermordete stammt aus Sri Lanka. Guido Brunetti ermittelt seinen 32. Fall, "Wie die Saat, so die Ernte", glänzend erzählt von Donna Leon, Diogenes € 26,90

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Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/2023.