Schwerarbeit Schlaf

Der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr', sagte einst Arthur Schopenhauer

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

'Wer die ganze Nacht schläft, hat am Tage Anspruch auf ein wenig Ruhe' - sagt ein altes Sprichwort. Scheinbar ein Widerspruch. Doch neueste Forschungsergebnisse zeigen, was in Zeiten lange vor den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft bereits vermutet wurde, dass während der Ruhe des Schlafes vor allem das Gehirn besonders aktiv ist. Schon in den 50er-Jahren entdeckten amerikanische Wissenschaftler das Phänomen des REM-Schlafs (rapid eye movement -schnelle Augenbewegung). Eine Phase des Schlaf-Zyklus, die sich mehrere Male während der Nacht wiederholt, in der unser Körper entspannt, das Gehirn jedoch extrem aktiv ist und die Augenlider sich bewegen.

REM-Phasen

Bekannte Schlaf-Experten wie Professor Rajkumar Dasgupta von der University of Southern California in Zusammenarbeit mit der Harvard Medial School definieren heute vier Phasen des Schlafs, die sich mehrmals wiederholen während der Nacht. Bevor der Zustand des REM beginnt, erlebt der Körper die Phasen 'Non-REM 1,2,3'. Phase 1 dauert nicht länger als zehn Minuten, beschreibt das Hinüber-Dösen in den Zustand des Schlafs. Atmung und Herzschlag verlangsamen und Muskeln entspannen sich.

Es geht nahtlos über in die Non-REM Phase 2, die Körpertemperatur sinkt, der Körper kühlt langsam ab. Das Gehirn schaltet einen Gang zurück, die Gehirnwellen -die Summe der elektrischen Impulse, durch die Milliarden Gehirnzellen untereinander kommunizieren - verlangsamen sich.

Non-REM Phase 3 ist der tiefe, traumlose Schlaf. Körper und Gehirn scheinen im Zustand der vollkommenen Ruhe zu sein. Während dieser Phase repariert der Körper Knochenaufbau und Muskeln, regeneriert das Immunsystem und den Energiehaushalt durch Ausschütten von Hormonen.

Ist diese Aufgabe beendet, geht der Schlaf über in die sogenannte REM-Phase. Diese unruhige Periode beginnt mit erhöhter Herz-und Atem-Frequenz, die Gehirnabschnitte für Emotionen und die Sensoren für Impulse der Nervenzellen werden aktiv. Die Phase der Träume beginnt.

Während der Traum-Phase kontrolliert das Gehirn die Aktivitäten der Arme und Beine, um überraschende Bewegungen zu verhindern. Träumt man zum Beispiel, auf einen Baum zu klettern, lähmt das Gehirn Arme und Beine, damit der Körper nicht während des Traumes mit Kletterbewegungen beginnt.

Netzwerke

Das Schlaf-Forschungszentrum am Medical Center Philadelphia definierte für die vier Phasen des Schlafes einen Zeitraum von 90 bis 110 Minuten. Während einer Nacht wiederholt sich dieser Zyklus vier bis sechsmal. Der gesunde Schlaf sollte mit einem vollständigen REM-Zyklus enden. Dann könnte der Tag ausgeruht und wach begonnen werden.

Das Gehirn leistet auf emotionaler Ebene während des REM-Schlafes Schwerarbeit. Sorgen, Probleme und Ängste, die uns während des Tages beschäftigten, wir sie abends mit ins Bett nehmen und sie das Einschlafen begleiten, erscheinen am Morgen weitaus weniger belastend. Das Gehirn kann den Erinnerungen die bedrohliche Panik nehmen, scharfe, schmerzhafte Ecken und Kanten der Sorgen und Unruhe abflachen und den emotionalen Schmerz reduzieren. Das Unbehagen verliert während des Schlafes teilweise den beängstigenden Effekt. Probleme werden jedoch nicht in das Vergessen verdrängt oder aus der Erinnerung gelöscht, sondern bearbeitet und verändert.

Bücherregal

Professor Matthew Walker von der University of California forscht auf dem Gebiet der sogenannten 'Overnight Therapy', eine unbewusste Therapieform des Gehirns, die während des Schlafs aktiv ist. Walker behauptet, dass sogar die Lern-Erfahrungen des Tages während der REM-Periode bearbeitet werden. Erkenntnisse der Wachphasen können durch neuronale Verbindungen in bereits bestehenden Netzwerken im Gehirn gelagert und gesichert werden und sind dann als Gedächtnis, Erinnerung und Wissen abrufbar. "Wir verstauen neue Informationen wie Bücher in einem Bücherregal, zwischen den bereits existierenden, ordnen sie nach Autoren und Fachgebieten, finden den Platz, wo sie am besten dazu passen", erklärte einer der Forscher den Mechanismus.

Nach einem gesunden Schlaf sind Informationen besser benutzbar. Der Zugriff wird beschleunigt, sie stehen im richtigen Moment für Problemlösungen, Streit und Diskussionen zur Verfügung - wie das Suchen von Büchern in einem gut organisierten Bücherregal. Die Grundlage für jede Form von Kreativität, wenn Querdenken und ungewöhnliche Kombinationen zu neuen, überraschenden Ergebnissen führen könnten, liegen in den zum Großteil unbekannten Aktivitäten der REM-Phase des Schlafes. Bei einer Versuchsanordnung wurden Männer und Frauen während unterschiedlicher Phasen des Schlafes geweckt und mit Aufgaben konfrontiert. Bei einem sogenannten Anagram-Puzzle -mit denselben Buchstaben soll ein neues Wort gebildet werden -schnitten Personen, die während der REM-Phase geweckt wurden, zu 32 Prozent besser ab als die Gruppe, deren Schlaf während der Non-REM Phase unterbrochen wurde.

Träume

Bleibt das immer noch weitgehend unerforschte Phänomen der Träume. Die meisten Schlaf-Forscher gehen davon aus, dass vor allem während der REM-Phase geträumt wird. Personen, die während der REM-Phase geweckt werden, berichten häufiger von Träumen als Personen, deren Schlaf in anderen Phasen unterbrochen wurde. Es gibt allerdings nur diesen indirekten Nachweis. Während zu Beginn des Zeitalters der Psychoanalyse dem Traum eine wichtige Rolle zugeordnet wurde, das Unbewusste besser zu verstehen, sehen manche Forscher heute Träume eher als eine 'Nebensache' der intensiven neurologischen Aktivität des REM-Schlafs. Inhalte werden oft willkürlich gedeutet, scheinbar verborgenen Problemen zugeordnet, doch statistische Beweise und wissenschaftlich aussagekräftige Ergebnisse sind bisher in der Traumdeutung nicht gelungen.

Einer der Gründe, warum Schlaf-Forschung heute so aktuell ist, sind die zunehmenden Schlafstörungen. Forscher sind sich einig, dass sieben bis neun Stunden Schlaf notwendig sind, mit etwa zwei Stunden REM-Schlaf. Schlafentzug wurde immer wieder als Foltermethode eingesetzt, als 'Weiße Folter' beschrieben, da keine körperlichen Folgen nachweisbar sind.

Die Reduzierung der REM-Phasen oder eine Unterbrechung des Schlafes, bevor sie beginnt, haben einen Einfluss auf die Lernund Merkfähigkeit, die Kreativität bei Problem-und Konfliktlösungen und die Verarbeitung psychischer Erfahrungen. Erste Kennzeichen einer gestörten REM-Phase sind Muskelbewegungen während der Träume, wenn die kontrollierte Lähmung der Muskulatur nicht mehr funktioniert. Die Folgen können ein gestörtes Erinnerungsvermögen und Vergesslichkeit sein, bis zu Demenz und Parkinson.

Vorbereitung

Moderne Schlaf-Institute experimentierten in den letzten Jahren mit Versuchen, die REM-Phase während des Schlafs zu verlängern oder bei verkürzter Schlafzeit die REM-Phase zu bewahren. Grundlage der Versuche ist die Idee, wenn schon der Schlaf durch Schlafstörungen verkürzt sei, könnte vielleicht die vollständige REM-Phase gerettet werden. Bisher sind alle Projekte in diese Richtung gescheitert. Die einzige Möglichkeit, die notwendige REM-Zeit zu erleben und dem Körper diese Periode zu garantieren, ist ein gesunder Gesamt-Schlaf. Die einzelnen Phasen lassen sich nicht voneinander lösen.

Dementsprechend wichtig sind die Vorbereitungen für den Schlaf, das Vermeiden von Aufregung, Alkohol und Koffein, grelles Licht, Lärm, überhitzte Räume und das Einhalten regelmäßiger Schlafzeiten. Das Gehirn braucht einen Anlauf wie ein Hochspringer, um in der REM-Phase während des Schlafes Höchstleistungen zu liefern. Die Bedingungen des Anlaufs sind beeinfluss-und kontrollierbar. Wenn einmal der Schlaf beginnt, ist unser Einfluss zu Ende. Wir können unterstützende Bedingungen schaffen, doch REM und Non-REM entziehen sich unserer Kontrolle.

'Der Schlaf ist für den ganzen Menschen, was das Aufziehen für die Uhr', sagte einst Arthur Schopenhauer. Mit dieser einfachen Symbolik ist eigentlich alles gesagt, was Wissenschaftler seit Jahren versuchen nachzuweisen.