Eine Stadt erprobt
ihre Wiedergeburt

Autor Peter Sichrovsky über die Weltmetropole New York, die sich alle 10 Jahre neu erfindet.

von Schlaglichter - Eine Stadt erprobt
ihre Wiedergeburt © Bild: Getty Images/Hershorn

Waren sie schon einmal in New York?", fragte mich meine Nachbarin im Flugzeug von Chicago nach New York. Sie war vielleicht Mitte Vierzig, groß, schlank mit runder Brille, dunklen, langen Haaren und hatte sofort nach dem Start ihren Laptop geöffnet. Ihr musste mein Akzent aufgefallen sein, als ich die Stewardess um Wasser bat. Dazu gab es ein paar Nüsse. "Ja, ich habe ein paar Jahre dort gelebt. Und woher kommen Sie?", antwortete ich. "Miami, die letzten 15 Jahre war ich in New York, jetzt hasse ich die Stadt, vor sechs Monaten bin ich weg, mit drei Kollegen nach Chicago, wir sind mit der ganzen Firma übersiedelt. Ich komme nur, um Kunden zu besuchen", sagte sie, und entschuldigte sich, dass sie weiterarbeiten müsse. Ich wollte jedoch mehr wissen und störte sie einfach: "Warum hassen sie die Stadt?"

"Du hast dort zehn Jahre Zeit. Wenn du es nicht schaffst, musst du weg, sonst lebst du ein Leben lang im Elend", sagte sie und lachte. "Jeder will es sich beweisen, dass er in New York erfolgreich sein kann, und ist bereit, viele Jahre um ein Vermögen in einem Loch zu wohnen und Tag und Nacht zu schuften, doch wenn man den Zeitpunkt verpasst, geht man dort zugrunde. Corona hat uns dann jede Lust genommen, weiterzumachen. Hohe Steuern, Mieten, Kriminalität, Lockdown, es hat gereicht."

"Also haben Sie den Zeitpunkt nicht verpasst", sagte ich. "Es war ein einziges Erlebnis, da wusste ich, ich muss raus", sie schloss den Laptop. "Ein paar Monate nach Beginn der Pandemie fiel mir auf, dass mein Auto eigenartig roch. Ich fuhr durch die Waschstraße, ließ es innen reinigen, doch es nützte nichts. Dann brachte ich es in die Werkstatt." Sie begann plötzlich zu lachen.

"Und?", fragte ich. Sie lachte immer noch und nahm ihr Brille ab.

"Der Mechaniker erklärte mir, dass sei der Geruch von Hühnerknochen, die im Motorbereich verbrannten." Ich konnte ihr nicht folgen, doch bevor ich weiter fragte, sagte sie: "Mit der Schließung der Restaurants begann eine Katastrophe für eine ganz andere Gruppe von New Yorkern, die Ratten. Die hatten plötzlich zu wenig zu fressen. Es blieb nur mehr der Dreck der Bewohner und ihr Abfall, und es kam zu einem Überlebenskampf. Nun, der sicherste Ort, wo Ratten, was sie finden, auch fressen können, ist der Motor der Autos. Dort krochen sie von unten hinein und ließen die Knochen zurück." Ich schüttelte den Kopf, mir fehlten die Worte. "Man könnte den Satz umdrehen: Die Ratten verlassen nicht das sinkende Schiff, sie übernehmen es!" Sie lachte wieder.

Selbstbild und Fremdbild

Touristen bewundern New York und glauben, es zu kennen. New Yorker beurteilen ihre Stadt anders. Sie sind ignorant, distanziert und spielen auf gleichgültig, sehen einander nicht in die Augen in den Straßen oder der U-Bahn, weichen nicht aus auf Gehsteigen. Fremde würden New York wie ein Bilderbuch betrachten und hätten keine Ahnung, wie hart das Leben hier sei.

Doch die Stadt braucht die 60 Millionen Touristen, die im letzten Jahr ausblieben. Sie besuchen Museen, lieben das Shopping, die Restaurants, die Broadway- Shows und die Brooklyn Bridge. Wie es in den Küchen und Lagerräumen des empfohlenen, originellen Restaurants zugeht, dort auf engstem Raum, oft ohne Klimaanlage mit einer steilen, rutschigen Treppe zum Lager, wo zwölf Stunden pro Tag gearbeitet wird für einen Hungerlohn, sehen sie nicht. Das Personal wohnt weit außerhalb von Manhattan, verlässt die Wohnungen um acht Uhr früh und kommt um zwei Uhr nachts nach Hause. Die Millionen, die den Alltag funktionieren lassen, arbeiten meist ohne soziale Sicherheiten und leben in ärmlichen Verhältnissen. Corona hat noch weitere Probleme gebracht. Eine halbe Million New Yorker verließen die Stadt. New York fehlen mehrere Milliarden an Steuereinnahmen. Doch wenn drei New Yorker durch eine Tür die Stadt verlassen, kommen fünf durch eine andere Tür herein. Das Finanzproblem der Stadt ist damit nicht gelöst. Die neuen New Yorker beginnen erst mit dem Kampf um Jobs und Karriere und zahlen wenig Steuern.

40 von 250 Hotels in Manhattan

Nach ein paar Tagen bei meiner Tochter in New Jersey, dem "Schlafzimmer" von Manhattan mit idyllischen, von Wäldern umgebenen, kleinen Städten, guten Restaurants und Bäckereien, einem ruhigen Leben für Familien, übersiedelte ich in ein Hotel in Soho, wo ein Freund als Manager arbeitet.

"Unser Frühstücksraum ist noch gesperrt, wir haben erst vor ein paar Wochen geöffnet, gehen wir zu 'Balthasar'", begrüßte er mich. "Balthasar2, das französische Lokal im Stil des Paris der Zwanzigerjahre, ist eine Institution in Soho.

"Vierzig Hotels der 250 in Manhattan sind erst offen, viele werden nicht mehr aufsperren. Amerikaner kommen langsam wieder, der internationale Tourismus ist völlig weggebrochen", erzählte David, während wir zur Spring Street gingen. In den Nebenstraßen des südlichen Broadways, einer Gegend, die vom Tourismus lebt, ist jedes zweite Lokal und Geschäft geschlossen, mit großen Postern an Türen und Fenstern: "Restaurant zu verkaufen" und "Geschäft zu mieten".

"Hier war einmal ein Knopfgeschäft, drei Generationen haben es geführt." David deutete auf einen geschlossenen Laden. "Dann haben die Hausbesitzer die Familie rausgeklagt und die dreifache Miete verlangt. Teure Sneakers hat man hier angeboten, und Touristen zahlten die verrückten Preise. Keiner wird den Platz um diesen Preis übernehmen."

Nach dem herrlichen Frühstück um 45 Dollar -beim Griechen um die Ecke zahlte ich am nächsten Morgen elf Dollar -gingen wir durch das East Village und Ukrainian Village, östlich vom Broadway. Was für eine veränderte Stimmung. Dutzende kleine Läden, manche nur drei Meter breit, Bäckereien, Kleidergeschäfte, die stolz informieren, dass sie ehrliche Löhne zahlen und natürliche Farben verwenden, ein Käsegeschäft, ein bunt verzierter Blumenladen und viele neue Restaurants.

Das kreative und verrückte New York konzentriert sich hier und zeigt die Energie dieser Stadt, die schon oft gestolpert ist, jedoch nie aufgibt. Eine junge Generation zieht in die Stadtteile mit niedrigen Mieten und probt die Wiedergeburt New Yorks.

Billiger, einfacher und interessanter

"Es ist die Generation der Erben", erklärte mir David. "Die Älteren haben ein Vermögen in den letzten Jahren zusammengerafft durch Boom der Börse und der Wirtschaft, verlassen die Stadt und geben einen Teil ihren Kinder, die es mit eigenen Projekten versuchen. Sie haben kein Interesse am Finanzmarkt, öffnen neue Geschäfte und Restaurants, versuchen es in der Kultur. Der Abzug eines Teils des Geldadels hat der Stadt gut getan. New York wurde zum Spielplatz der Superreichen und Touristen mit oft menschenunwürdigen Bedingungen für die normale Bevölkerung und hat damit seine faszinierende und einmalige Identität fast aufgegeben." "Wie wird das neue New York aussehen?", fragte ich David.

"Es wird ein anderes New York sein, billiger, einfacher und dennoch kreativer und interessanter. Je mehr die Stadt verlassen und die Mieten billiger werden, desto größer ist die Chance, dass neue Talente kommen. Wenn der Broadway im September wieder öffnet, ist das ein weiterer Schritt. Ohne Kultur existiert die Stadt nicht, das betrifft sowohl den Tourismus als auch das Lebensgefühl der New Yorker. Die Ökonomie wird sich verändern. Bürotürme stehen leer. Firmen des Finanzwesens sind weggezogen, andere wie Google, Amazon und Apple wollen ihre Zentren hier her verlegen. 2025 wird New York wieder auf dem ökonomischen Niveau von 2019 und dennoch ganz anders sein. Hier wiederholt sich nichts, die Stadt erfindet sich alle zehn Jahre neu." Nach dem Abendessen in Brooklyn ging ich zu Fuß durch die Alleen mit den renovierten, wunderschönen Brownstones und über die Manhattan Bridge zurück nach Soho. Von der Brücke aus, mit dem rötlichen Schimmer der untergehenden Sonne über den schwarzen Hochhäusern von Manhattan, der Brooklyn Bridge und dem East River, gab sich diese laute, schmutzige Stadt mit den schwarzen Mistsäcken, die meterhoch auf den Gehsteigen auf den Mistwagen warten, fast schon versöhnlich und einladend.