Fußball und Moral

Autor Peter Sichrovsky über Fußball und Moral - ein Widerspruch oder eine Bedingung?

von
Schlaglichter - Fußball und Moral

In einem der vielen Interviews im ORF zur Fußball-EM kam ein Literaturkritiker zu Wort. Er wurde, um seine Autorität zu rechtfertigen, den Zuhörern als Fußball-Fan angekündigt. Das genügte.

Der Literaturkritiker ermahnte uns einfache Fußball-Fans, die sich mit perfekten Kombinationen, herrlichen Torschüssen und mutigen Paraden der Torhüter begnügen, dass simple Unterhaltung moralisch nicht mehr zu vertreten sei. Er nannte Beispiele als Begründung, wie die enormen Gehaltsunterschiede zwischen Fußballprofis und dem Krankenhauspersonal, das während der Coronakrise Großartiges geleistet hätte, dass Fußballklubs arbeiteten würden wie gierige, internationale Konzerne, die keine Steuern zahlten, und die unterschiedlichen Trainingsbedingungen für Stars im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen sozial ungerecht wären.

Diese Lehrstunde zum Thema Ethik und Fußball beendete er mit der Aussage: "Ich habe nur einen Wunsch, wer nicht Europameister werden sollte, das wäre Österreich, das wäre Frankreich, das wäre Deutschland. Dort würde dann der Nationalismus noch wesentlich steigen. Und das finde ich eigentlich gar nicht gut." Unwidersprochen unterstellte der Literaturkritiker der Bevölkerung Österreichs, Frankreichs und Deutschland einen krankhaft übertriebenen Nationalismus und deponierte sein Vorurteil als Warnung vor Vorurteilen. Nicht den Italienern, den Holländern, nicht den Spaniern, den Polen und schon gar nicht den Serben und Albanern, die mit dem Wutausbruch des österreichischen Nationalspieler Marko Arnautović - mit serbischen Wurzeln - gegen Ezgjan Alioski - mit albanischem Background - an den verbissenen, europäischen Nationalismus erinnerten.

1934 die erste Weltmeisterschaft

Ottorino Barassi, vor langer Zeit Präsident des Italienischen Fußballverbands, blockierte 1958 das erste europäische Fußballturnier mit dem Argument, es sei noch nicht genügend Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. 1960 fand es doch statt, mit dem Skandal, dass Spanien, von Franco regiert, den Besuch seines Teams im kommunistischen Moskau verbot und disqualifiziert wurde. Barassi hatte Erfahrung mit dieser Art Probleme. Er organisierte 1934 die ersten und 1938 die zweiten Fußballweltmeisterschaften während unruhiger Zeiten. Bis 1950 fand keine Weltmeisterschaften statt. In diesen zwölf Jahre versteckte Barassi die "Coupe Jules Rimet" in einer Schuhschachtel unter seinem Bett.

Barassis Bedenken haben heute noch ihre Berechtigung. Die nationalen, ethnischen und politischen Konflikte leben im Fußball weiter. Auf den Dressen des ukrainischen Teams war die Krim als Teil der Ukraine eingezeichnet. Russland protestierte, und die ukrainischen Verantwortlichen mussten die Landkarte entfernen. Vor dem Spiel England gegen Schottland ging es mehr um die unterschiedliche Einstellung zu Brexit und die Einheit des Königreiches als um Fußball. Beim Vorbereitungsspiel Irland gegen Ungarn knieten die Iren, während das ungarische Team einfach stehen blieb, und in Deutschland, England und Österreich pfiffen die Zuschauer während der Hymnen der Gegner. Um Moral ging es auch auf anderen Bühnen. Cristiano Ronaldo nimmt zwar gerne an der Fußballshow teil, die erst durch die Millionen der Sponsoren möglich ist, und lässt sich für jedes Tor feiern wie kaum ein anderer, schob jedoch die Coca-Cola-Flaschen während der Pressekonferenz zur Seite und verlangte Wasser. Ein Greenpeace Aktivist verletzte einen Zuseher, als er protestierend mit einem Fallschirm ins Münchner Stadium segelte.

Freie Einreise für Prominenz

Der starke Mann Ungarns, Viktor Orbán, begrüßte stehend sein in militärischer Formation aufgereihtes Nationalteam vor 60.000 maskenlosen Zusehern in der Puskás Aréna, um der UEFA zu zeigen, hier könne ein Endspiel ohne Masken und bei offenen Grenzen stattfinden - im Gegensatz zu Wembley in London. Die britische Regierung reagierte in Panik und hob die Quarantänebestimmungen für Prominente auf, die zum Endspiel reisen würden -auch wenn selbst Heiraten in England immer noch verboten ist.

"Das Problem des Fußballs sind die wichtigen Dinge beim Fußball, und das ist nicht Fußball", kommentierte ein Mitarbeiter der BBC. Mehr als tausend Jahre kriegerische Auseinandersetzungen könnten nicht einfach vom Tisch gefegt werden. Jetzt bliebe plötzlich nur noch der Eurovision Song Contest und Fußball. Der Soziologe John Williams warnte davor, in den internationalen Fußballmeisterschaften ein Zeichen für Gemeinsamkeit und Gesinnung zu sehen. Das Gegenteil sei die Realität. Fußball erinnere uns an ethnisch-kulturelle Differenzen, Nationalstolz und Rivalitäten. Die Menschen seien nicht bereit, Herkunft, Tradition und familiäre Wurzeln einfach aufzugeben.

Das Niederknien zeigt das Missverständnis und die Verdrehung einer Symbolik dieser ursprünglich authentischen Geste in den USA. Weder die Teams von Russland und Polen noch die von Ungarn sind bereit dazu. Der farbige Football-Profi Colin Kaepernick kniete erstmals während der Nationalhymne -und nicht danach wie in Europa -und zeigte Distanz zum nationalen Stolz und keine Demut als ein Zeichen des Protests und seiner persönlichen Betroffenheit. Für Osteuropa geht es darum, den nationalen Stolz nach der aufgezwungenen kommunistischen Hegemonie wieder zu beleben. Sie wollen ihre Hymnen singen und stehen, weder für noch vor jemandem knien.

"Dress-Gate" in Österreich

Österreich hatte sein eigenes "Gate" während der Spiele, doch gemäß seiner Tradition, politische Differenzen eher auf einem infantilen Niveau auszutragen, entdeckten Kritiker das "Türkis-Dress-Gate" mit strukturierter Empörung auf Social Media und dem Vorwurf, dass die regierende ÖVP den armen Spielern die nationale rot-weiße Tracht verweigert hätte, um mediengerecht ihre eigene Farbe durchzusetzen. Dass diese bereits 2016 nach Vorschlag von Puma vereinbart wurde, wie der ÖFB bekanntgab, tat nichts zur Sache. Man gab sich ausgerechnet von jener Seite nationalistisch, die sonst Stolz und Ehre in Verbindung mit dem Begriff der Nation ins rechtsextreme Eck drängt. Den aufrechten Beobachtern ist jedoch entgangen, dass am neuen Dress der die Ketten sprengende antifaschistische Bundesadler fehlt. Der Dress der Österreicher ist erst seit 2002 rot-weiß - auf Vorschlag von Hans Krankl. Von 1908 bis zur Änderung 2002 trugen die heimatlichen Fußballer schwarze Hosen und weiße T-Shirts.

Die Chancen eines geeinten, von Vorurteilen gereinigten Europas liegen nicht im Leugnen nationaler, regionaler, und ethnischer Unterschiede und einer übergestülpten, europäischen Tugendhaftigkeit. Sondern im Neben- und Miteinander der Völker, Kulturen und Traditionen auf der Grundlage von Respekt und Toleranz gegenüber dieser Vielfalt. Der Fußball selbst hat keine Moral, ebenso wenig wie Tischtennis und Volleyball, sondern den Regeln entsprechend Sieger, Verlierer oder ein Unentschieden. Es geht um Sportkampf, Wettbewerb und Gewinnen, nicht um Nächstenliebe und Mitleid. Genau das fasziniert das Publikum.

Tödlich für die Moral ist allerdings die Doppelmoral, wenn Fußballverbände wie der Deutsche DFB vor einem Boykott der WM in Katar warnen und gleichzeitig die Auseinandersetzung um die diskriminierenden Gesetze Ungarns in die Fußballarena verlagern. In Katar hat die Regierung bereits bekanntgegeben, dass Besucher die "kulturellen" Traditionen respektieren und Homosexuelle in der Öffentlichkeit sich nicht "erkennbar" zeigen sollten. Lesben und Schwulen drohen in Katar bis zu fünf Jahre Haft.

Wer Fußball in die belehrende Schulmeisterei zwängt - mit der gleichen Logik sollten Orchester, Sänger und Sängerinnen vor der Aufführung der Zauberflöte niederknien -, das Spiel mit missionierenden Botschaften überlädt, wird ihn früher oder später in die Langweile abschieben. Schon jetzt gehen die Zahlen der Zuseher konstant zurück. Bald ist alles wunderbar glattgebügelt, hoch anständig, politisch korrekt und konfliktfrei - die einst schönste Nebensache der Welt wird dann kaum jemanden interessieren.