Schlaglichter aus Tel Aviv

Gründung durch Verlosung der Grundstücke

von Tel Aviv © Bild: iStockphoto.com/Dance60

Aus Wien geflüchtet vor Regen, Schnee und geschlossenen Kaffeehäusern, landete ich letzte Woche in Tel Aviv. Nicht meine erste Reise nach Israel, und manche waren nicht unproblematisch. Wie der Besuch mit der ehemaligen Vizekanzlerin Susanne Riess 2001 und meine Pendel-Aktivität zwischen Tel Aviv und Damaskus bezüglich drei entführter israelischer Soldaten.

Diesmal war es die Sehnsucht nach Sonne und Kaffee am Strand, einfach einem normalen Alltag. Doch was ist schon "normal" in Zeiten wie diesen? Vor der Reise nach Israel muss sich jeder Tourist online registrieren und die Impfungen hochladen. Auf dem Flughafen wird nach der Landung getestet. In der Halle vor dem Ausgang sitzen etwa 50 vermummte Gestalten, die einem das schon gewohnte Wattestäbchen in den Mund schieben.

Im Hotel an der Rezeption belehrte mich die junge Frau mit lockigen, schwarzen Haaren und einem Gesicht, als hätte sie eine Pause während der Dreharbeiten zum nächsten Hollywood-Film, dass ich bis zum Ergebnis des Tests im Zimmer bleiben müsse. Jedes Mal beeindruckt mich die Schönheit vieler jungen Israelis.

Mutationen

Ein paar Stunden nach meiner Landung wurde das Land wegen der neuen Mutation in Südafrika für Touristen gesperrt. Ich fragte die lockige Schönheit, ob das auch mich betreffe, doch sie beruhigte mich: "Sie hatten Glück, gerade noch vor den neuen Bestimmungen angekommen zu sein."

Am nächsten Tag traf ich einen Freund aus Wien, der hier seinen Sohn besuchte. Ronny erinnerte mich an die Geschichte der Stadt, die erst vor hundert Jahren gegründet wurde.

Ende des 19. Jahrhundert, als sich mehr und mehr jüdische Emigranten in der arabischen Stadt Jaffa südlich es heutigen Tel Aviv ansiedelten, der alten Hafenstadt mit engen Gassen und kleinen Häusern, und zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung Spannungen das Leben erschwerten, beschloss eine Gruppe von Familien, eine neue, eine jüdische Stadt zu gründen. Sie suchten nicht lange. Nördlich von Jaffa war Platz genug. Akiva Arieh Weiss, ein Uhrmacher aus Grodno im heutigen Belarus, gründete mit 66 jüdische Familien eine Baugesellschaft. Sie nahmen einen Kredit auf und beschlossen, für jede Familie ein Haus zu bauen, versammelten sich am Strand des heutigen Tel Aviv, um Grundstücke zu verteilen. Ein einziges Foto existiert von dieser Zusammenkunft, auf dem Männer in dunklen Anzügen und Hüten im Sand stehen.

Auf dem Bild kann man einen Mann mit dunklem Sakko, weißer Hose und weißem Hut auf einem kleinen Hügel erkennen. Vor ihm stehen an diesem Tag des Pessachfestes rund 100 Menschen.

"Ich erklärte ihnen die Regeln der Verlosung genau", schrieb Weiss in seinen Memoiren. Da sich die Mitglieder der Baugesellschaft nicht auf die Verteilung der Grundstücke einigen konnten, kam Weiss die rettende Idee einer Lotterie. Um Tricks und Täuschungen mit beschriebenen Zetteln zu vermeiden, forderte er die Gruppe auf, am Strand Muscheln zu sammeln und zu ihm zu bringen. Er teilte sie in graue und weiße Muscheln und gravierte Nummern ein. Dann gab er jeder Familie eine weiße Muschel und ließ sie eine graue mit der Nummer des Grundstückes aus einem Hut nehmen. So entstand Tel Aviv.

Silicon Wadi

Diese Woche veröffentlichte das Magazin "Economist" die Liste der teuersten Städte der Welt. Aus der ehemaligen Lotterie am Strand wurde die teuerste Stadt der Welt, noch vor Singapur, Paris und New York. Nur 320 Kilometer entfernt, etwa die Distanz zwischen Wien und Salzburg, liegt Damaskus, die billigste Stadt weltweit.

In der Nähe des Strands von Tel Aviv reihen sich Immobilienbüros aneinander. "Apartments mit Swimming Pool" werden um Preise von fünf bis zehn Millionen Euro angeboten, und einfachste Wohnungen sind nicht unter einer Million zu haben. Mieten und Immobilen haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, und selbst wenn das Durchschnittsgehalt oft höher liegt als in Österreich, muss in Familien einer der beiden Partner nur für die Miete arbeiten.

Tel Aviv, eine Stadt der Extreme. Mit dem weltweit höchsten Anteil an erfolgreichen Start-ups, gemessen an der Bevölkerung, und Hightech-Entwicklungen wie in kaum einem anderen Land bleibt Lehrern, Krankenschwestern und Taxifahrern kaum genug zum Leben. Der Verkehr ist eine Katastrophe, U-Bahn-und Eisenbahn-Projekte werden immer wieder verschoben, und manche Gegenden, die von den Luxuswohnungen nur Minuten entfernt sind, sehen aus wie Vororte von Neapel.

Nobelpreisträger

"Silicon Wadi" heißt der Hightech-Gürtel, abgeleitet vom arabischen Wort "Wadi" für "Tal". Ausgehend von der hochmodern ausgerüsteten Armee und dem Geheimdienst haben sich milliardenschwere Unternehmen etabliert, deren Entwicklungen auf dem elektronischen Sektor weltweit nicht mehr wegzudenken sind. Kein iPhone, keine moderne Chirurgie, kein Informationssystem würden ohne israelische Entwicklungen funktionieren. Aus Israel mit etwa gleich vielen Einwohnern wie Österreich kamen in den letzten 15 Jahren sechs Nobelpreisträger für Chemie.

Schattenseiten

Doch der Glanz hat seine Schattenseiten. 23 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Trotz Einwanderung von Juden aus aller Welt haben etwa 750.000 Israelis das Land in den letzten Jahrzehnten verlassen, allein zehntausend Israelis leben in Berlin. Wichtigste Gründe sind die hohen Lebenskosten, das chaotische Gesundheitssystem, mangelnde Infrastruktur und ein extremes Arm-reich-Gefälle.

Der steigende Antisemitismus in den USA und Europa - vor allem in Frankreich - veränderte die Stadt. Wohlhabende Europäer und Amerikaner kaufen Apartments in Tel Aviv, neue Restaurants und Cafés öffnen fast täglich, und Bäckereien bieten knuspriges Baguette und Croissants. Es lebt sich gut hier, wenn man es sich leisten kann.

Im Café neben meinem Hotel fragte mich Nora, woher ich komme. Sie sei schon oft in Wien gewesen, jedoch habe Covid ihr Leben kaputt gemacht. "Ohne Reisen sitzt man hier wie in einem Gefängnis", sagte sie. "Ihr könnt in ganz Europa herumfahren, wo sollen wir hin, in den Libanon?"

Sie verdiene 8.000 Schekel (etwa 2.200 Euro) im Monat, erzählt sie. Ihr Freund etwas mehr. Ihr Gehalt reiche nicht einmal für die Miete. Die Wohnung habe zwei Zimmer, kaum mehr als 50 Quadratmeter.

"Wie sollen wir da an eine Familie denken ? Wer keine Unterstützung durch Eltern hat, ist hier verloren", sagte sie. Ob sie vorhabe, wegzuziehen, fragte ich sie. Sie würde jederzeit gehen, antwortete sie. Ihr Freund jedoch sei begeisterter Zionist und liebe dieses Land, egal, wie hart er arbeiten müsse und wie schwierig das Leben sei.

An einem Nachmittag saß ich mit Rafi in seinem Büro. Als ehemaliges Mitglied der Knesset, des israelischen Parlaments, gründete er eine erfolgreiche Beratungsfirma. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen Fotos mit Berühmtheiten, von Clinton bis Arafat, Mitterrand und dem König von Jordanien.

Pragmatismus

"Die Ideologien sind dem Pragmatismus gewichen", sagte er. "Wir haben gute Beziehungen zu China, Uganda, den Emiraten und natürlich Österreich. Der Kampf gegen Antisemitismus und die Feinde Israels wie den Iran ist nicht mehr ideologisch überlagert, die Probleme sind vielschichtiger und komplizierter, wir gehen gezielt vor, egal, ob Gegner Rechte, Linke oder Islamisten sind."

Am nächsten Morgen mietete ich Sessel und Schirm am Strand und ging in das nur wenige Meter entfernte Café LaLa. Als ich zurückkam, war der Sessel besetzt. "Entschuldigen sie, das ist mein Sessel", sagte ich zu dem älteren Mann, der sich dort niedergelassen hatte. "Der war leer, hier in Israel müssen Sie zumindest ein Handtuch da lassen", belehrte er mich. "Das hab ich gestern gemacht, hier in Israel, und als ich zurückkam, war das Handtuch weg", antwortete ich. Er lachte. "War wenigstens der Sessel frei?", fragte er. Ich nickte, und wir lachten beide. Er holte sich einen anderen freien Sessel. "Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Kaffee ein", sagte er plötzlich, und wir gingen ins Café. Als wir zurückkamen, waren beide Sessel besetzt. "So ist es halt, mein Israel", sagte er lächelnd.