Die „Rosinenbomber“

US-Piloten versorgten Berliner Kinder mit Süßigkeiten

von Alliiertenmuseum Clayallee mit einem Rosinenbomber © Bild: imago images/Jürgen Ritter

Im Juli 1948, als die Bewohner Berlins immer noch Trümmer zerstörter Häuser aus den Straßen trugen und die wenigen noch stehenden Gebäude renoviert wurden, beobachtete Gail Halvorsen, Pilot der amerikanischen Luftwaffe, ein paar zerlumpte Kinder, die am Zaun des Flugfeldes im Tempelhof standen und zusahen, wie die Flugzeuge gereinigt und gewartet wurden. Er ging auf sie zu, sprach mit ihnen und reichte den Kindern die letzte Packung Wrigley-Kaugummi, die er in der Hosentasche hatte.

„Ich war erschüttert, als ich ihnen in die Augen sah, diese Freude und Dankbarkeit über ein Stück Kaugummi, und sagte ihnen, sie sollten in einer Stunde zurückkommen, ich würde noch andere Süßigkeiten besorgen“, schrieb er in seiner Biografie.

Halvorsen war einer der Piloten, die mittels Luftbrücke die Blockade der Sowjetunion unterliefen, die Berlin auf dem Landweg absperrte. Westberlin, mitten im Sowjetischen Sektor, das durch Lkw-Transporte aus dem Westen versorgt wurde, sollte völlig abgeriegelt werden. Grund war die Einführung der D-Mark im Westen und die Furcht der Sowjetunion, dass die Bewohner Ostberlins den Stadtteil verlassen würden. Von Juni 1948 bis September 1949 brachten britische und amerikanische Transportflugzeuge insgesamt 2,3 Millionen Tonnen Lebensmittel, Heizmaterial und Medikamente hauptsächlich von Frankfurt nach Berlin. 300.000-mal landeten Flugzeuge in Berlin, 31 Amerikaner und 39 Briten verloren ihr Leben durch Unfälle und Abstürze.

Fallschirme

Nach dem Erlebnis mit den Kindern kam Halvorsen die Idee, heimlich, ohne seine Vorgesetzten zu informieren, kleine Pakete mit Süßigkeiten auf den Transportflügen mitzunehmen. Er versprach den am Zaun wartenden Buben und Mädchen, die täglich mehr wurden, nachdem es sich herumgesprochen hatte, dass es dort ein paar freundliche Amerikaner gäbe, die Schokolade verteilten, die Süßigkeiten vom Flugzeug kurz vor der Landung abzuwerfen. Die Kinder zweifelten an der Geschichte, und einer bemerkte, dass alle paar Minuten ein Flugzeug in Berlin lande. Wie sollten sie erkennen, in welchem er kommen würde. Halvorsen lachte angeblich über den Einwand, beschrieb er die Begegnung, und versprach, wenn er über Berlin sei, kurz vor dem Abwurf der Pakete mit den Flügeln zu wackeln. Tatsächlich warteten die Kinder am nächsten Tag in der Umgebung des Flughafens auf ein Flugzeug, das die Flügel bewegte. Halvorsen und sein Kopilot warfen die verpackten Süßigkeiten aus dem Fenster, die am Boden aufprallten und oft zerschellten.

In seiner Biografie schrieb Halvorsen von einem neunjährigen Buben namens Peter Zimmermann, der ihm durch den Zaun einen Brief reichte. In dem Kuvert war ein Blatt Papier mit einer Zeichnung eines Fallschirms und der Adresse des Buben, wo die nächste Sendung abgeworfen werden sollte. Halvorsen fand zwar das Haus auf der Landkarte nicht, übernahm jedoch die Idee der Fallschirme. Die Piloten sammelten in den Unterkünften Taschentücher und bastelten kleine Fallschirme.

Der Fotograf

1980 zog ich von Wien nach Westberlin in die Nollendorfstraße, nicht weit vom Nollendorfplatz, der mir noch von Kästners Roman „Emil und die Detektive“ in Erinnerung war, mietete eine billige Drei-Zimmer- Wohnung in einem typischen Berliner Hinterhof mit Kohlenheizung und einer Zwischendecke in der Küche, die man über eine Leiter erreichte, wo hinter einer Holztüre die Kohle gelagert wurde. Berlin war damals ein Paradies für Künstler und Schriftsteller, großzügig unterstützt von der Bundesrepublik, hatte man den Eindruck, es würde überhaupt niemand arbeiten und in den Cafés hauptsächlich darüber diskutiert, wo man wie die nächste Förderung bekommen könnte.

Im Vorderhaus zur Straße hatte ein Fotograf sein Geschäft, verkaufte Filme für Fotoapparate und Filmkameras, Fotokopierpapier und machte Fotos von Hochzeiten, Begräbnissen, ersten Schultagen und Passbilder. Auf einem der vielen Fotos hinter seinem Verkaufstisch gegenüber dem Eingang standen mehrere Kinder auf einem Berg von Ziegelsteinen und Brettern und winkten einem Flugzeug zu. Als ich einmal die Bilder länger ansah während ich auf Passfotos wartete, deutete er mit dem Finger auf einen kleinen Jungen und sagte: „Hier, das bin ich!“

Der Bub trug ein kariertes Hemd, kurze Hosen und einen ärmellosen Pullover. Er hielt ein Taschentuch hoch, das an den Ecken mit Schnüren verknüpft war und wie ein Fallschirm aussah. An den Schnüren hing ein kleines Paket.

„Da war Schokolade drin, Bonbons, Kaugummi und Rosinen“, sagte er und erzählte, dass nach den ersten Flugzeugen, die Fallschirme abwarfen, immer mehr Kinder nach Neuköln kamen und auf den Trümmerhaufen auf jene Flugzeuge warteten, die mit den Flügeln wackeln würden. Zu Beginn sei es ein Kampf um die wenigen Pakete gewesen, aber nach einigen Wochen warfen die Flugzeuge so viele Fallschirme ab, dass jeder etwas bekam. In den Wochen vor Weihnachten 1948 baten die Mütter ihre Kinder, den Piloten zu sagen, sie sollten Rosinen abwerfen. Sie hätten keine für die Weihnachtsbäckereien und den Weihnachtsstollen. So warfen die Piloten eben mehr Rosinen ab. Aus dieser Episode ergab sich das Wort „Rosinenbomber“.

Er erzählte von der Blockade, als in den Lebensmittelgeschäften die Regale leer waren. Tagelang hätte es keine Zeitungen gegeben, manchmal auch keine Kohlen oder kein Benzin. Die einfachsten Dinge wie Schreibhefte und Bleistifte waren plötzlich ausverkauft. In den Schulen wurden Essen und Kleidungsstücke an die Kinder verteilt.

Auch sein Vater sei Fotograf gewesen und habe dieses Geschäft eröffnet, er kam erst 1947 aus der Gefangenschaft zurück. Als die sowjetische Besatzungsmacht während der Blockade den Westberlinern anbot, sich im Ostteil der Stadt registrieren zu lassen und mit Lebensmitteln versorgt zu werden, seien nur wenige gegangen. Sein Vater hätte damals gesagt, er würde lieber seinen gekochten Schuh essen wie Charly Chaplin in einem seiner Filme, bevor er in den Osten gehe.

Onkel Wackelflügel

Halvorsen beschrieb in seiner Biografie, wie später, als sie immer größere Mengen abwarfen, die Flugzeugmechaniker den Notfall- Abwurfschacht hinter dem Pilotensitz seiner Maschine C-54 benutzten. Wegen der wackelnden Flügel nannten ihn die Kinder Onkel Wackelflügel. Die Offiziere im Kommando hatten keine Ahnung von der Aktion. Nach ein paar Wochen veröffentlichte ein deutscher Journalist einen großen Bericht über die Schokoladenfallschirme. Auf den Schreibtischen im Kommandozentrum des Berliner Stützpunktes der US-Luftwaffe stapelten sich Kinderbriefe an einen Onkel Wackelflügel.

Als der verantwortliche Offizier davon erfuhr, wurde Halvorsen ins Büro des Hauptquartiers zitiert. Der Kommandanten der Luftbrücke war begeistert von der Idee und gab die offizielle Erlaubnis, weiterzumachen. Bis zum Ende der Luftbrücke hatten etwa 25 Flugzeugbesatzungen insgesamt 23 Tonnen Süßigkeiten über Berlin abgeworfen.

Halvorsen Schule

1974 wurde Halvorsen das Große Bundesverdienstkreuz und der hohe US-amerikanische Militärorden „Legion of Merit“ verliehen. Bei den Olympischen Winterspielen 2002 in seiner Heimatstadt Salt Lake City trug er auf Einladung der deutschen Mannschaft das Namensschild mit der Aufschrift „Germany“ bei der Eröffnungsfeier ins Stadion. Während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Endes der Luftbrücke flog Halvorsen im Mai 2009, diesmal als Passagier, erneut in einem „Rosinenbomber“ über das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof und warf rund 1.000 Schokoladenpäckchen über dem Rollfeld ab.

2013 wurde im Berliner Stadtteil Dahlem eine Sekundarschule nach ihm benannt: „Gail S. Halvorsen Schule“. Am 70. Jahrestages nahm Halvorsen, inzwischen 98-jährig, am 12. Mai 2019 noch einmal an den Feierlichkeiten auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof teil, und zu seinem 100. Geburtstag gratulierte ihm Präsident Frank-Walter Steinmeier. Am 16. Februar dieses Jahres, wenige Wochen nach seinem 101. Geburtstag, starb Gail Halvorsen.