Pessach in New Delhi

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Am 5. April beginnt das jüdische Fest Pessach. Sieben Tage lang erinnert es an die Flucht des Volks der Israeliten aus Ägypten und beginnt mit dem Seder-Abend. Ein Abendessen mit kompliziertem Ablauf, erklärt in der Haggada, einem oft bunt bebilderten Heft, das jeder jüdischer Haushalt aufbewahrt und das, an die Gäste des Abends verteilt, der Reihe nach vorgelesen wird.

Nach jüdischer Tradition beendet Pessach die Versklavung des israelischen Volks. Als sich die Ägypter weigern, die Hebräer ziehen zu lassen, bestraft Gott sie mit der Tötung der Erstgeborenen. Um verschont zu bleiben, sollte jede israelitische Familie ein Schaf oder eine Ziege schlachten und mit dessen Blut die Türpfosten bestreichen. An markierten Häusern werde der Todesengel vorübergehen.

Vierzig Jahre

Danach drängte der Pharao die Israeliten zum Verlassen des Lands, Moses führte sie auf eine 40 Jahre lange Wanderung von Ägypten in das kanaanäische Land - Teile des heutige Syriens, von Libanon und Israel.

Während der Wochen vor dem Seder reinigen religiösen Familien ihre Wohnungen. Brot, Nudeln, Kekse und jeder Krümel aus gesäuertem, fermentiertem Getreide werden aus der Wohnung verbannt. "Sieben Tage sollt ihr nur ungesäuertes Brot essen" heißt es in der Tora in Erinnerung an die Mazze, die während der Flucht das Brot ersetzte -dünne, zerbrechliche Brotfladen, hergestellt aus ungesäuertem Mehl und Wasser, die etwa so schmecken wie getoastete Papiertaschentücher.

Ich wuchs in einem Elternhaus auf, in dem die Religion keine Bedeutung hatte. Mein Großvater mütterlicherseits trat wie viele intellektuelle, assimilierte Wiener Juden aus der jüdischen Gemeinde aus. Kultur ersetzte ihm den Glauben. Er korrespondierte mit den Mitgliedern seiner Literaturgesellschaft in Hexametern.

Die Räuber

An einem der Abende der Gesellschaft kam es zu einem derart heftigen Streit über das Theaterstück "Die Räuber" von Schiller, dass mein Großvater durch den Buchrücken in das Buch schoss, das ich mit den zerfetzten Seiten immer noch als Erinnerungsstück aufbewahre. Jüdische Familien luden mich oft zum Seder-Abend ein. Manchmal besuchte ich während der Zeit in New York und Chicago eines der koscheren Restaurants, die ein volles Programm zu Pessach anboten.

Einen besonders interessanten Seder- Abend erlebte ich in New Delhi, wo ich Anfang der 90er-Jahre als Auslandskorrespondent arbeitete. Als Pessach näher kam, interessierte mich die jüdischen Geschichte der Stadt, und ich entdeckte nicht weit von unserer Wohnung das jüdische Zentrum von New Delhi, die Judah-Haym-Synagoge. Damals lebten noch etwa 20 jüdische Familien in New Delhi. Es gab sogar einen Rabbiner, der hauptberuflich als Beamter der Stadt arbeitete.

Die Synagoge war ein niedriges, unscheinbares Haus, umgeben von einem verwilderten Garten mit gelbem, lehmartigem Verputz und einem einzigen Raum mit kleinen, runden Fenstern, die sich nicht öffnen ließen. An dessen Front stand anstelle eines Bima, des Podiums, auf dem aus der heiligen Schrift gelesen wird, ein einfacher Tisch mit zwei Kerzen und einem Lesepult.

Der Rabbiner kündigte für den Feiertag diesmal eine Überraschung an. Er versprach die Verteilung von Mazze, das man in Delhi nicht bekommen konnte. Er habe vor ein paar Tagen eine Bestellung aus Bombay erhalten, wo es in der jüdischen Gemeinde mit mehreren Tausend Mitglieder ein funktionierendes jüdisches Leben gebe.

Zwei Familien

Wir trafen uns am späten Nachmittag in der Synagoge. Es kamen zwei indische Familien, ein paar Touristen aus Frankreich, Italien und den USA und einige Ex-Pats, die in Delhi arbeiteten. An den Wänden hingen Fotos prominenter Besucher dieser Lehmhütte, unter ihnen Shimon Peres und der Dalai Lama. Vergilbte Fotografien aus vergangenen Zeiten mit Bar-Mitzwot-Feiern und Hochzeiten der ehemals einflussreichen jüdischen Gemeinde, deren Mitglieder fast alle nach Israel ausgewandert waren. Der Rabbiner, ein älterer, ruhig und langsam sprechender Mann mit dicken Gläsern in den Brillen und einem großen, schwarzen Hut, den ihm über die halben Ohren rutschte, erzählte von einem religiösem Alltag, der oft den strengen Regeln der Orthodoxie widersprach. Um einen Minyam zu erreichen -zehn Männer sind notwendig für ein Gebet - werden regelmäßig indische Gartenarbeiter dazugeholt.

Der Rabbiner bat uns, mit den Stühlen einen Kreis zu bilden. Er verteilte die Haggada in englischer Sprache. Jeder von uns las ein paar Sätze, einer nach dem anderen, dem Kreis folgend. Der Rabbiner unterbrach manchmal mit Erzählungen aus der Geschichte der Gemeinde und verwies stolz auf prominente Besucher, die hier mit ihm Pessach gefeiert hätten.

Die zwei Franzosen konnten kaum Englisch und stotterten beim Lesen des Textes, bis sie kleine Hefte mit der Haggada auf Französisch aus ihren Taschen holten und die Erzählung in ihrer Sprache lasen. Die Touristen aus den USA, die offensichtlich die Religion weitaus ernster nahmen, weigerten sich, auf Englisch vorzulesen, und sagten die Sätze, wenn sie an der Reihe waren, auswendig auf Hebräisch.

Vier Fragen

Es kam zu den vier wichtigen Fragen des Seder-Abends, die traditionell ein Kind lesen sollte. Der Sohn einer der indischen Familie versprach sich mehrere Male, las vor lauter Nervosität die dritte Frage zuerst und die zweite zuletzt, bis alle lachten und aus der Runde religiöser Widersprüche, unterschiedlicher Herkunft und Sprache sich eine fröhliche Gruppe bildete, die glücklich war, nicht alleine in der Fremde feiern zu müssen.

Es näherte sich die feierliche Verteilung der Mazze. Der Rabbiner bat einen Inder, der bei der Tür auf dem Boden saß, das Packet mit dem Brot zu holen. Er verließ die Synagoge, wir warteten gespannt, doch er kam nicht zurück. Der Rabbiner öffnete die Tür, rief etwas in den Garten, doch niemand antwortete. Ich fragte ihn, wo die Mazze aufbewahrt sei, einer der Amerikaner gesellte sich zu mir, und wir boten dem Rabbiner an, es selbst zu holen, gingen durch den Garten zu einer kleinen Hütte. Der Rabbiner öffnete das Vorhangschloss, und tatsächlich, vor uns lag ein großer runder Karton, etwa einen Meter hoch.

Der Amerikaner, bärtig und kräftig, nahm den Karton und trug ihn auf den Schultern zurück in die Synagoge. Da stand er nun in der Mitte des Kreises, und die Kinder fragten ihre Eltern, was denn da drinnen sei. "Eine Überraschung", sagte eine der Mütter, und die Kleinen tanzten vor Aufregung um den Karton herum. "Hat jemand ein Messer?", fragte der Rabbiner, und es war wieder der Amerikaner, der ihm ein Taschenmesser reichte.

Der Rabbiner schnitt langsam den Streifen auf, mit dem der Deckel verklebt war, riss ihn runter und blickte in den Karton, hob seinen Kopf und sah uns an, langsam sich im Kreis drehend. "Es tut mir leid", stammelte er plötzlich. Wir alle erschraken und glaubten einen Moment lang, etwas Furchtbares sei geschehen. Bis eines der Kinder zu dem Karton ging, hineinblickte und sagte: "Der ist ja leer!"

Wir drängten uns um den Behälter -bis auf ein paar Brösel am Boden war nichts zu sehen. Einer der Franzosen drehte den Karton um und erklärte, er sei von unten aufgemacht und dann wieder verklebt worden.

Chicken Curry

Schweigend wichen wir zurück, formten wieder einen Kreis um den leeren Karton. Die Kinder begannen zu lachen, und es wirkte befreiend auf die schweigsame Betroffenheit der Erwachsenen. "Wir haben ein paar Familien, die heute vielleicht gehungert hätten, ein Geschenk gemacht, und Sie hier haben das indische Pessach kennengelernt", sagte der Rabbiner und jeder in der Gruppe war zufrieden, sogar die drei streng gläubigen Amerikaner.

Zurück in der Wohnung aßen wir Chicken-Curry und Palak Paneer, ein Spinatgericht mit Käsestücken, das der Koch zubereitet hatte, und trotz allen Flehens, er solle sich mit den Gewürzen zurückhalten, war es wieder derart scharf, dass wir es nur mit Reis, Jogurt und Naan, dem indischen Brot, essen konnte -ohne ungesäuertes Mazzes. Wir hatten damals alles falsch gemacht an diesem Seder-Abend.