Opus summum, posthum: Gerhard Roth auf "Jenseitsreise"

von Opus summum, posthum: Gerhard Roth auf "Jenseitsreise" © Bild: APA/S. Fischer Verlag

Gerhard Roths letzter, unvollendeter Text

Ist es Zufall oder Schicksal? In jedem Fall verschlägt es einem den Atem: "Jenseitsreise" heißt das in diesen Tagen erscheinende Buch, das wohl als letzter Text des im Februar 2022 verstorbenen Autors Gerhard Roth gelten muss. "Mein Tod" heißt der erste Teil, und er beginnt mit einem Sprung in den Abgrund. "Ich war aus der Welt geflüchtet, in der ich meine Einsamkeit nicht länger ertragen hatte, die Sinnlosigkeit, das Verstummen der Menschen und das Fehlen von Liebe."

Liebe hat Roth wohl auch in den letzten Monaten seines Lebens erfahren, als er an diesem Text schrieb, der sich nun als sein opus summum entpuppt, und liebevoll wurde die zwischen Mitte Oktober 2021 und Ende Jänner 2022 in vier Schreibbüchern hinterlassene, handschriftliche Fassung des Buches transkribiert und bearbeitet. Wie viel Arbeit das war, lässt sich anhand einiger Faksimileseiten erahnen. Wie sehr der Autor selbst das vorliegende Manuskript noch überarbeitet hätte ist ebenso fraglich wie, was der dritte und letzte Teil enthalten hätte. Von ihm ist nur der Titel enthalten: "Die Flussreise".

"Mein Tod" und "Die Wüstenstadt" heißen die beiden ersten Teile, die in ein imaginiertes Kairo führen, in dem das alte, pharaonische, und das neue, touristische Ägypten ebenso präsent sind wie Toten- und Traumreich. "Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht", hat Roth dem Buch vorangestellt und damit nur jene Poetik formuliert, die seit Anbeginn sein Schreiben gekennzeichnet hat: Die dichterische Freiheit ist grenzenlos. Die dichterische Aufgabe ist es, Grenzen von Zeit und Raum mittels Vorstellungskraft zu überwinden und diesen Grenzüberschreitungen sprachlichen Ausdruck zu geben. "Mich fröstelt vor Künstlern, die nur in der Wirklichkeit der Wirklichkeit hängen bleiben, im Fleischwolf des Sichtbaren, in den Konservenbüchsen der Normalität, unter dem Fleischhammer des Politischen", zitiert Daniela Bartels in ihrem umfangreichen, viele Zusammenhänge aufzeigenden Nachwort einen der letzten Sätze, die Roth kurz vor seinem Tod in den die "Jenseitsreise" begleitenden Notizbüchern niedergeschrieben hat.

Springen und sterben - das macht gleich eingangs des Textes Franz Lindner, den Roth-Leser als alter ego des Autors kennen, und der in der Folge eine abenteuerliche Reise durch das Totenreich unternimmt. Er selbst beschreibt sie als zweidimensional wie in einem Zeichentrickfilm, man kann sie sich aber auch gut als durchgeknallten filmischen Trip in der Ästhetik von Giorgos Lanthimos' "Poor Things" vorstellen. Roth genießt es sichtlich, alle Fesseln der Plausibilität abzulegen und Jenseitsvorstellungen aller Religionen durcheinanderzumischen. Unübersehbar ist allerdings, dass Dantes "Göttliche Komödie" und die christliche Vorstellung von Himmel, Hölle und Fegefeuer die dominante Rolle spielen.

Man kommuniziert im Jenseits per Gedankenstrom und hat keine Übersetzungsprobleme - was Lindner gleich feststellen darf, als er zunächst als Raupe von einer Elster verschluckt wird und sogleich den Vogel denken hört: "Du bist keine Raupe - du bist ein Mensch." Bald darauf fliegt der Tote selbst im Federkleid der Elster umher, aber die Überraschungen der Fortbewegung und Kommunikation im Totenreich sind gar nichts gegen die Reichhaltigkeit der Begegnungen, die hier möglich sind. Große Dichter und Denker, Künstlerinnen und Autorinnen, Genies und Outcasts sind hier quasi im Dutzend vorhanden. Stefan Zweig betreut die Bibliothek, Franz Kafka (immer mit seinem Biografen Reiner Stach im Schlepptau) ist in geheimer Mission unterwegs, Thomas Bernhard wird von Bienen ins Gesicht gestochen - worauf Henry Dunant mit einem Rot-Kreuz-Koffer zu Hilfe heilt.

Es ist ein ungeheuerliches und überaus vergnügliches Panoptikum, das sich Gerhard Roth hier einfallen lassen hat, und selten lässt sich der Reisende naheliegende Fragen an die prominenten Toten entgehen. Hier geht es nicht nur um Kunst und Kreativität, um Selbst- und Außenbild, um den Einzelnen und die Gesellschaft, sondern auch um Schuld und Sühne, Hoffnung und Zweifel. Die Lebensthemen von Gerhard Roth, die Grundfragen des künstlerischen Schaffens, sind hier so geballt, aber auch so spielerisch versammelt, dass es bei einer ersten Lektüre unmöglich ist, sie in ihrer Gesamtheit zu umfassen.

Letztlich bleibt Verblüffung, wie leicht sich Roth am Ende von allen irdischen Beschränkungen befreien konnte. Und Trauer darüber, dass er seine Jenseitsreise nun zwar fortsetzen, aber nicht mehr darüber berichten kann. Jedenfalls nicht mehr im klassischen Medium des geschriebenen und gedrucktes Buches. Aber die KI soll ja rasante Fortschritte machen ...

(S E R V I C E - Gerhard Roth: "Jenseitsreise", S. Fischer Verlag, 416 Seiten, 26,80 Euro. Veranstaltungen: Florian Müller im Gespräch mit Lektor Jürgen Hosemann zum Buch: museum gugging, Maria Gugging, 2.6., 15 Uhr; Johannes Silberschneider liest aus dem Buch, Einführung: Jürgen Hosemann. Anschließend im Gespräch mit Daniela Bartens und Senta Roth: Literaturhaus Graz, 3. Juni, 19 Uhr)