OBLOMOWEREI

Die Wiederentdeckung des Nichtstuns

von Roter Platz © Bild: iStockphoto


Der russische Schriftsteller Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) schrieb nur wenige Bücher, ein paar Romane und Reiseberichte, und verbrachte sein Leben als einfacher Beamter, auch wenn er als Sohn eines wohlhabenden Adeligen nie hätte arbeiten müssen. Die Petersburger Künstler nannten ihn wegen seines behäbigen Lebensstils "Prinz der Faulheit" - eine Ähnlichkeit mit seiner berühmten Romanfigur Ilja Oblomow. 1859 veröffentlichte er den Roman "Oblomow" - bis heute neben den Werken von Dostojewski, Puschkin und Tolstoi einer der weltweit bekanntesten Romane der russischen Literatur.

Die Handlung ist schnell erzählt: Der "Held", Ilja Iljitsch Oblomow, verweigert sich dem sogenannten normalen Leben seiner Zeit. Er verbringt die Tage mit Faulenzen, Schlafen und Essen, verzichtet auf Erfolg und Karriere und heiratet trotz einer Liebschaft mit einer aufregenden Schönheit seines Standes seine Haushälterin, deren Kochkünste er schätzt und die ihn liebevoll umsorgt.

Normalzustand

"Das Herumliegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit wie für einen Müden, noch ein Genuss wie für einen Faulpelz: Es war sein normaler Zustand", schreibt Gontscharow. Der gutmütige und liebenswerte Träumer Oblomow wurde zum Symbol der Verweigerung eines angeblich richtigen Lebens.

Auf den ersten Blick wirkte der Roman wie eine Abrechnung mit dem verwöhnten, russischen Adel, der durch Einnahmen aus Großgrundbesitz in materieller Sicherheit lebte. Sein Jugendfreund Andrej Stolz versucht, ihn immer wieder zu ermutigen, sein Leben zu ändern. Doch in den Diskussionen zwischen Oblomow und Stolz, der als erfolgreicher Geschäftsmann das logische Gegenteil repräsentiert, beschreibt Oblomow seine Zweifel am sogenannten "normalen" Leben. Arbeit sei geprägt von Sinnlosigkeit und Zeitverschwendung. Akten müssten hin-und hergetragen, abgelegt und wieder bearbeitet werden. Vorgesetzte würden nutzlose Aufträge verteilen, die respektiert werden müssten, und tagtäglich sei man mit Menschen konfrontiert, die einem das Leben schwer machten. Man laufe verzweifelt Erfolg und Geld nach, umgebe sich notgedrungen mit Menschen, die man nicht ausstehen könne, und plötzlich sei man alt, vielleicht wohlhabend und angesehen, habe jedoch die Zeit verloren, die die schönste hätte sein können.

"Leben? Ein schönes Leben! Was hab ich dort zu suchen? Das sind alles Leichname, schlafende Menschen, schlimmer noch als ich, diese Mitglieder der Welt und der Gesellschaft. Sie liegen zwar nicht herum, sondern schwirren wie die Fliegen hin und her, aber zu welchem Zweck?", verteidigt sich Oblomow gegen die Kritik seines Freundes Stolz.

Gleichgültigkeit

Die Bekanntheit des Romans führte zu dem Begriff der "Oblomowerei", den Lenin als Krebsschaden verdammte und Lethargie und Gleichgültigkeit als "konterrevolutionäres" Verhalten kritisierte. Oscar Wilde definierte es anders: "Gar nichts tun, das ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt."

Der Begriff der Oblomowerei wäre längst vergessen, wenn nicht Psychologen und Soziologen ihn wiederentdeckten im Zusammenhang mit Reaktionen auf Maßnahmen gegen die Covid-Gefahren. Trägheit und Interesselosigkeit verbreiteten sich mit einer Häufigkeit wie die Anmeldungen bei Psychotherapeuten. Ein neues Krankheitsbild beschrieben die Fachleute als plötzlichen Stillstand des Lebens und das Gefühl, "überflüssig und wertlos" zu sein.

Doch es gab auch andere, zum Teil überraschende Reaktionen auf die Folgen der Lockdowns . Als Hunderttausende ihre Arbeit verloren, kündigte sich eine ökonomische und menschliche Katastrophe an. Erstaunt, verwirrt und erklärungslos reagierten die Unternehmen, als die Arbeit wieder aufgenommen wurde, die Entlassenen jedoch nicht zurückkamen. In manchen Branchen wie Airlines, Hotels, Restaurants und der Bauwirtschaft fehlen bis zu 40 Prozent der Angestellten und Arbeiter. Fabriken konnten ihre Produktion nicht hochfahren, Hotels blieben geschlossen, und in Skizentren funktionieren die Lifte nicht, weil das Personal fehlt.

Arbeitsbedingungen

Ein Teil der Arbeitslosen suchte neue Positionen in Branchen mit "lebenswerten" Arbeitsbedingungen und besserer Bezahlung. Sie hatten genug von unterbezahlten, befristeten Verträgen, extremen Arbeitszeiten und einer Unsicherheit, die nur den Unternehmen jede Freiheit bot. Ein weiterer Prozentsatz erkannte, dass weniger Arbeit bei weniger Geld immer noch ein angenehmes und ruhigeres Leben mit mehr Freizeit und weniger Stress ermöglichen könnte. Sie suchten Halbtagsbeschäftigungen, projektbezogen Aufgaben als freie Mitarbeiter und nutzten die modernen Methoden der Kommunikation, um selbstständig von zuhause aus zu arbeiten.

Manche allerdings entdeckten die Verlockung des "Nichts-Tuns", verfielen in die Oblomowerei, versuchten, sich einzurichten mit einem geringeren Budget, weniger Reisen, ohne Auto, einer billigeren Wohnung, und verzichteten auf das neueste iPhone. Sie zeigten auf Facebook ihre selbstgebackenen Brote, wetteiferten in Online-Schachgruppen oder nahmen sich vor, ein Buch zu schreiben, und erlebten es als spannende Beschäftigung, auf dem Sofa liegend darüber nachzudenken, auch wenn sie nie eine Zeile schrieben. Die Faulheit breitete sich aus, und viele begannen, sich in ihr wohlzufühlen.

Überleben

Doch es wäre zu einfach, es als reine Lust an der Bequemlichkeit zu verurteilen. Die Alternativen -Fleiß, Aufstieg und Erfolg -hatten ihren Zauber verloren. Die Bedingungen der Karrieremodelle verschlechterten sich von einer Generation zur nächsten. Der Aufbau selbst eines geringen Wohlstands wurde schwieriger, der Berufseinstieg limitiert durch Beziehungsnetze und Nepotismus. Die Sehnsucht nach dem Eigenheim ohne Erbschaft unerreichbar. Sie sahen die anderen ein Leben lang schuften, nie die Gemeindewohnung verlassen und den kümmerlichen Alltag der Pensionszeit.

Wozu eigentlich, scheinen sich manche zu fragen, wenn Aktien und Gewinne während der Covid-Krise explodierten, eine privilegierte Minderheit ihr Pensionsparadies genoss und gleichzeitig die Kaufkraft der Gehälter der Arbeitnehmer um mehr als fünf Prozent gefallen war. Ich könnte auch mit weniger überleben, überlegten sie. In der Früh ausschlafen, wenn notwendig ein paar Stunden arbeiten, im Kaffeehaus Zeitung lesen, mit den Kindern eislaufen gehen und, falls einmal mitten im Winter die Sonne scheint, was in Wien selten passiert, sogar tagsüber am Kahlenberg spazieren gehen. Die Maßnahmen gegen Corona fungierten als Türöffner und Experimentierfeld für eine neue Form der Oblomowerie.

Languishing

Die "New York Times" nannte es "Languishing", dieses Gefühl zwischen Euphorie und Depression mit der totalen Gleichgültigkeit selbst gegenüber der Gleichgültigkeit. Befragte man die Betroffenen nach ihrer Zufriedenheit, beschrieben es die meisten: "Ich bin nicht unglücklich, vielleicht nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich", das Leben laufe auf Sparflamme. Es langweile sie nichts mehr als all jene, die stolz behaupten, sich nie zu langweilen.

Eine Leistungsgesellschaft, in der das Nichtstun verpönt ist und Geschäftigkeit als Statussymbol kommuniziert wird, selbst Kinder ermahnt werden, ob sie denn nichts zu tun hätten, kann mit der Zufriedenheit in der Faulheit nicht umgehen. Sie widerspricht dem vermittelten Bedürfnis nach Karriere und Erfolg, der quantitativen Bewertung von gesellschaftlichem Respekt und Prahlerei mit Zeit und Ort, und würde den Untergang des marktorientierten Systems bedeuten.

Wenn allerdings staatliche Unterstützung plus wenige Nebenbeschäftigungen ein angenehmes, doch sicheres Überleben garantieren, auf zwar niedrigem Niveau, jedoch ohne Mühen der oft eintönigen, schlecht bezahlten Arbeit, könnte "Oblomowerie" sich zu einem gesellschaftlichen Konkurrenzmodell zur Leistungsgesellschaft stabilisieren.