Die Lust zu arbeiten

Über den Widerstand gegen pensionierte Langeweile

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Vor ein paar Monaten sah ich eine Anzeige: Mitarbeiter gesucht für das ATP-Tennis Turnier in Wien. Als begeisterter Tennis-Fan bewarb ich mich - bereits im Pensionsalter - und erwartete nicht einmal eine Antwort. Doch man lud mich zur Mitarbeit ein, gab mir verschiedene Aufgaben, wo immer jemand gebraucht wurde ohne Rücksicht auf mein Alter. Vom Ticketverkauf, der Ausstellung der VIP-Karten bis zur Begleitung der Kinder, die vor dem Spiel auf dem Spielfeld die Münze werfen, verbrachte ich die Tage mit Kolleginnen und Kollegen, von denen manche jünger waren als meine Kinder -eine aufregende und spannende Woche.

In anderen Ländern ist das nicht so ungewöhnlich. Elsie Dickson war 68 Jahre alt, als ihr die Universitätsverwaltung in Stockholm mitteilte, dass sie aufhören sollte zu unterrichten, und ihren verdienten Ruhestand anzutreten könne. 40 Jahre lang arbeitete sie als Professorin für Geschichte. Sie wusste sich zu beschäftigen -in den ersten Monaten der Pensionierung schrieb sie sich in den Kirchenchor ein, gab Nachhilfestunden, half aus im nahe gelegenen Altersheim und kümmerte sich um die Familien ihrer Kinder und Enkelkinder.

Stockholm

Doch all das hinterließ nach einiger Zeit eine eigenartige Leere, die Aktivitäten reduzierten sich auf typische Beschäftigungen in der Pensionszeit und langweilten sie. Dann starb ihr Ehemann und ließ sie verzweifelt zurück mit dem Gefühl, dass sie im Grunde genommen nur noch auf ihren eigenen Tod warte.

Während einer Fahrt mit der U-Bahn in Stockholm sah sie eine Anzeige, dass die Stadtwerke Personal suchten und auch bereits pensionierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aufnehmen würden. Sie bewarb sich. Die heute 77-Jährige verkauft seit sieben Jahren Fahrkarten in einer U-Bahnstation, hilft älteren Passagieren und Müttern mit Kindern, gibt Touristen Auskunft und übernimmt zusätzliche Verpflichtungen, wenn jemand krankheitshalber ausfällt. Zwei- bis dreimal in der Woche arbeitet sie, manchmal auch die Nachtschicht bis 2 Uhr morgens. Die 1.500 Euro, die sie dazuverdient, ändern nicht ihre Steuerabgaben - sie verliert keine Anteile an der Pension. Doch es ist nicht das Geld, das ist fast nebensächlich. Das Schönste sei, sagte sie in einem Interview, dass sie wieder mit Menschen zusammen sein könnte, die voll im Leben stehen würden. Die nicht - wie sie es als Fulltime-Großmutter erlebte - versuchen, mit dem Leben anderer dem eigenen einen Sinn zu geben.

Altersgruppen

Dickson hat sich nicht direkt bei den Stadtwerken beworben, sondern bei einem Unternehmen mit dem Namen 'Veteranpoolen', eine der Agenturen, die sich in Schweden darauf spezialisieren, pensionierte Frauen und Männer zu vermitteln. Schweden hat mit 82 Prozent neben Island den höchsten Anteil an arbeitenden Menschen in der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre weltweit. Dahinter liegen Japan und Neuseeland mit je 79 Prozent, Norwegen und Dänemark mit 76 Prozent. Im Vergleich dazu arbeiten nur etwa 51 Prozent dieser Altersgruppe in Österreich, es liegt damit am anderen Ende dieser Reihung.

Das World Economic Forum hat 2022 eine Studie unter dem Titel 'Great Unretirement' veröffentlicht, die sich mit dem Phänomen des 'Länger-Arbeiten' beschäftigt und Strategien vorschlägt, wie Regierungen und Unternehmen sich darauf einstellen könnten. Es gehe um das Problem der Altersdiskriminierung, der Möglichkeiten für Ältere, neue Techniken und neue Berufe zu erlernen, Anpassung der Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Neben der besseren Konstitution und Gesundheit älterer Menschen erwähnt die Studie auch die Altersverarmung, die Notwendigkeit für viele, zur Altersversorgung dazuzuverdienen.

Agenturen

Laut Hakan Ericson, Leiter einer Vermittlungsagentur für ältere Frauen und Männer in Schweden, verbringen die Älteren ihre Zeit mit Hobbys, Sport, Reisen, Kulturveranstaltungen und Kontakt zu den Enkelkindern. Viele in dieser Altersgruppe genießen den Golf-und Tennisplatz mit Gleichaltrigen, die Spaziergänge und die Zeit mit der Familie und möchten diese Erlebnisse nicht aufgeben. Doch gleichzeitig fühlen sie sich abgeschoben, in ständiger Wartestellung für das Krankenhaus und letztendlich für den Friedhof.

Vor allem gesunde ältere Menschen haben mehr und mehr das Bedürfnis, zumindest eine gewisse Zeit als aktive Mitglieder der Gesellschaft zu verbringen mit einer konkreten Aufgabe und Verantwortung. Ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Pensionsvergnügen wäre die Wunschvorstellung vieler. Natürlich gäbe es jene, die ein Leben lang schwer gearbeitet hätten, in Fabriken, im Baugewerbe und Straßenbau, die froh sind, nicht mehr arbeiten zu müssen. Dennoch sollte die Gesellschaft sich darauf einstellen, allen die Chance zu geben, so lange zu arbeiten, wie sie wollen, im gleichen Beruf oder etwas Neues beginnen, erklärte der Direktor der Agentur.

Arbeitgeber in Schweden hätten sich auf die unterschiedlichen Bedingungen für ältere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im internationalen Vergleich besonders gut eingestellt. Interessant ist dabei die Beobachtung der Agenturen, dass viele der Älteren auf Status und Stellung verzichten würden. Ehemalige Universitätsprofessoren verkaufen Zugtickets, Manager arbeiten in Bibliotheken und IT-Spezialisten als Busfahrer. Eine Berechnung aus Großbritannien zeigte, dass neun Millionen aktive, gesunde ältere Frauen und Männer mit hervorragender Ausbildung dem Arbeitsmarkt durch frühzeitige Pensionierung verloren gehen. In Österreich ist diese Problematik besonders alarmierend.

Busroute

Der 65-jährige Stefan Anders, ein ehemaliger Computerspezialist, fährt dreimal die Woche eine Route mit einem Kleinbus, der die Dörfer in der Gegend verbindet. Er hat den Vorschlag der Gemeinde in Südschweden am Meer, wo er sich ein Häuschen für die Pension gekauft hatte, angenommen, sich als Busfahrer ausbilden zu lassen. Eine Baugesellschaft hat Pensionisten und Pensionistinnen unabhängig von der Vorbildung angeboten, sie als Maler auszubilden. Sie konnten keine Arbeitskräfte finden. Der Älteste unter den Malern ist 82, hat mit 65 begonnen und arbeitet etwa 100 Stunden im Monat. Vor seiner Pensionierung war er Buchhalter, hatte nie etwas mit Anstreichen zu tun.

Psychologen beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie Menschen rückblickend ihr Leben beurteilen. Geht es um Glücklichsein, finanziellen Erfolg, das Schaffen von etwas Wertvollem, um dem Leben eine Bedeutung zu geben? Die US-Psycholgen Shigehiro Oishi und Erin Westgate haben eine bisher unbeachtete Dimension beschrieben -das sogenannte 'rich life', ein Leben voller Abwechslung, Vielfalt und Risken (wie 'Die Presse' kürzlich veröffentlichte). Es setzt sich mehr und mehr bei älteren Menschen als Sehnsucht und Wunsch durch, das Abenteuer im Alter nicht durch Gruppenreisen oder Tanzkurse zu erleben, sondern sich trotz Pensionierung in den Alltag zurück zu stürzen -bevor es zu spät ist, sie krank und schwach werden und den Anstrengungen eines Arbeitslebens nicht mehr gewachsen sind.

Verantwortung

Der Wunsch, noch etwas 'Reales' erleben zu können, löst die Idee der reinen Freizeitgesellschaft ab. Neue Herausforder-ungen reizen mehr als Kreuzfahrten. Frei nach Frank Sinatra in seiner 'My Way'-Beichte: "I travelled each and every highway". Oder, um es komplizierter auszudrücken, wie Nietzsches Zarathustra: "Gipfel und Abgrund -das ist jetzt in eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Größe."

Ist dieser 'eigene Weg' die richtige Empfehlung? Sollen wir Bücher mit Ratschlägen fürs Alter wegschmeißen, nicht auf Lehrmeister hören, die predigen, wie man das Alter gestalten sollte? Symbolisieren die ewig grinsenden Gesichter der Grauhaarigen auf Facebook und in der Werbung das 'glückliche Alter' oder geht es auch um Spannung und Aufregung, um Neugierde und Verantwortung. Wir wissen nicht, wie lange die Reise zum Friedhof dauert, aber wir können und sollten selbst entscheiden, wie wir diese letzte Reise planen, gestalten und erleben.