Impfen und Pflicht

Wenn das Gesollte zu Zwang wird

von Schlaglichter - Impfen und Pflicht © Bild: Getty Images/Francesco Carta

In der deutschen Sprache existieren mehr als 300 Kombinationen mit dem Wort "Pflicht". Beispiel: Die kostenpflichtige Haftpflichtversicherung sollte pflichtgemäß als Bürgerpflicht pflichtbewusst und abgabepflichtig bezahlt werden, um nicht pflichtvergessend zur Regresspflicht der pflichtmäßigen Zahlungsverpflichtung vertragsverpflichtend verpflichtet zu werden.

In der Philosophie hat sich eine eigene Richtung entwickelt, die Deontologische Ethik, die sich mit dem "Erforderlichen, dem Gewollten und der Pflicht" beschäftigt. Die Diskussion innerhalb dieser philosophischen Theorie konzentriert sich auf die Motive einer bestimmten Handlung. Da werden endlos die Unterschiede debattiert, ob eine Entscheidung aufgrund einer moralischen Überzeugung getroffen wird oder der möglichen Konsequenzen. Als entscheidend gilt das Verhältnis zwischen Handlung und Folgen. Kann das Tun moralisch vertretbar sein ohne Bewertung der Wirkung, oder müssen diese bei Entscheidungen berücksichtigt werden?

Der wichtigste Theoretiker der Deontologie, C. D. Broad, versuchte, die Motivationen für eine "verpflichtende" Handlung in zwei Gruppen aufzuteilen: eine die sich auf eine grundlegende Moral stützt, und die andere, die einen gewissen Zweck erfüllen sollte.

Verpflichtend

Übertragen auf die Impfpflicht widerspricht diese Wortkombination zum Teil der Bedeutung der "Pflicht". Sie ist keine absolut moralische Handlungsweise, sondern wird als verordnete Verpflichtung verstanden, um sich selbst und andere zu schützen. Niemand lässt sich impfen, weil es als moralische Bedingung des Daseins verstanden wird, sondern weil man auf eine Gefahr reagiert. Ist diese Entscheidung an Strafen gekoppelt, kann man nicht mehr von Pflicht, sondern müsste man von Zwang sprechen. Zollpflicht, Gurtenpflicht, Kennzeichnungspflicht, Dienstverpflichtung, apothekenpflichtig, genehmigungspflichtig, steuerpflichtig, Rückzahlungspflicht, Helmpflicht sind nach deontologischer Ethik im Grunde genommen keine Pflichten, sondern Entscheidungen, die mit Hilfe von Drohungen durchgesetzt werden.

Vertreter einer absoluten Deontologie behaupten, dass die möglichen Folgen einer Handlung nicht entscheidend seien. Zum Beispiel sei Töten immer verwerflich, auch wenn damit ein größeres Unheil verhindert werden könnte. Mit praktischen Beispielen versuchen die Philosophen, der Moral auf die Spur zu kommen. Die "Trolley-Probleme", entwickelt von der britischen Philosophin Philippa Ruth Foot (1920-2010), können die Gelehrten an den Rande ihrer Weisheit treiben. Den nach absoluter und uneingeschränkter "Anständigkeit" rufendenden Fachleuten legte sie folgendes Beispiel vor:

"Ein außer Kontrolle geratener Zug wird fünf Personen, die sich zufällig auf dem Gleis aufhalten, töten, außer, der Zug wird auf ein Seitengleis umgeleitet, wo nur eine Persipan getötet wird." Welche Lösung wäre moralisch vertretbar?

Pflichtbewusst

Zeigt eine Impfung Nebenwirkungen, die in einzelnen Fällen zum Tod führen könnten, wäre sie nach radikal moralischen Grundsätzen abzulehnen, selbst wenn sie andere retten würde. Ein durch den Staat verordneter Impfzwang ist daher eine amoralische Entscheidung. Eine Impfpflicht weniger, da sie an die Eigenverantwortung appelliert. Philippa Foot vertrat allerdings die Ansicht, dass Moral und Rationalität nicht voneinander zu trennen seien. Könnten Tausende gerettet werden, selbst wenn einige Opfer dieser Impfung nicht überleben, sei dies moralisch vertretbar. Könnten Tausende gerettet werden durch Einschränkung der Freiheiten der Ungeimpften, sei auch das zumutbar.

Wie wäre die Rettung des eigenen Kindes durch seine Eltern zu bewerten, wenn zwei andere Kinder nicht gerettet werden könnten? Auch hier scheitert der absolute Ansatz aufgrund einer besonderen Beziehung der Eltern zum eigenen Kind und entzieht sich der moralischen Deutung. Wie steht es jedoch mit der Moral, wenn Eltern, die eine Impfung gegen Corona ablehnen und diese auch ihren Kindern verweigern? Hier gefährdet das Naheverhältnis die Kinder und verpflichtet die Behörden, einzugreifen, und ist moralisch vertretbar. Das moralische Verhalten des Staates in Vertretung der Mehrheit orientiert sich nach der Minderheit. Ignoriert diese mehrheitlich über einen bedrohlich langen Zeitraum ihre Pflichten, zwingt sie den Staat, im Auftrag der Mehrheit zu handeln.

Pflichtwidrig

Ein Beispiel aus der Politik wäre das Verbot extremistischer Parteien und Gruppierungen. In Deutschland und Österreich sind Parteien und Organisationen verboten, die Gedankengut und Theorien der NS-Ideologie verbreiten. Eine NSDAP dürfte nicht zu Wahlen antreten. Das Verbot bedeute Schutz der Demokratie und der demokratischen Stabilität, jedoch gleichzeitig eine Einschränkung der Freiheiten. Wäre es die akzeptierte demokratische Pflicht jedes Wahlberechtigten, sie nicht zu wählen, müsste sie nicht verboten werden. Eine NS-Partei würde an der Wahlurne scheitern und nicht vor Gericht. Aus Unsicherheit gegenüber dem pflichtwidrigen Verhalten der Wähler spricht eine Regierung das Verbot, den moralisch gerechtfertigten Zwang, aus.

Die Philosophen Kant und Constant diskutierten über einen Mann, der vor einem Mörder flüchtet und sich in dem Haus eines Fremden versteckt. Als der Mörder einen Hausbewohner fragt, ob er den Flüchtenden gesehen hat, ergibt sich die Frage nach der Berechtigung, zu lügen. Kant beharrte darauf, dass auch ein Mörder nicht angelogen werden dürfe, während Constant vom "Recht des Lügens" sprach. Das Theaterstück "Weh dem, der lügt" von Franz Grillparzer zeigt in grandioser Form das Problem der "Lüge mit der Wahrheit", wenn der Küchenlehrling Leon seinen von den Germanen gefangenen Neffen befreit, ohne ein einziges Mal zu lügen.

Ähnliche Diskussionen gibt es zum Thema Folter. Wenn Foltern eines Gefangenen den Tod anderer verhindern könnte, so ist das nach Meinung der einen vertretbar, während andere dem widersprechen und darauf bestehen, dass es eine Moral gäbe, die unabhängig von den Konsequenzen ihre Bedeutung habe. Wer von Erwartungen ausgehend Entscheidungen trifft, begibt sich garantiert auf moralisches Glatteis.

Entpflichtet

Der Impfzwang ist eine Einschränkung der Freiheit. Die Impfpflicht, solange sie nicht mit Strafen unterstützt wird, ist eher eine Form der Ermahnung, die an das Gewissen appelliert. Der moralische Absolutismus, der keine Situation zulässt, in der eine unmoralische Handlung vertretbar sei, bringt die gewählten Vertreter des Staates in eine Zwangslage, entweder im Sinne der Rechte der Gefährdeten oder der Gefährder zu handeln. In beiden Fällen werden sie zu Verrätern - verraten die Freiheiten der Ungeimpften oder die der Geimpften oder aus der Position der Unsicherheit gleich beider Gruppen.

Wäre die Impfung für alle verfügbar, und die Bevölkerung würde im Sinne von Johann Fichte die Pflicht und damit die Impfpflicht als eine Konsequenz des Seins verstehen, müssten weder Drohungen noch Bitten ausgesprochen und keine Strafen angedroht werden. Doch Gesellschaften reagieren unterschiedlich in Bezug auf Verantwortungs- und Pflichtgefühl.

Das Wort "Pflicht" appelliert an das Gewissen, an ethisch-moralische Werte, die zum Handeln motivieren. Es ist eine Aufforderung von "innen" und wird zum Zwang durch Drohung von "außen". Gegen Impfpflicht zu demonstrieren, bedeutet, gegen sich selbst aufzutreten, sich selbst zu verdächtigen, die Werte der Moral zu ignorieren. Die Entscheidung des Staates, die Impflicht durch Impfzwang zu ersetzen, ist eine Form der Notwehr, die von Regierungen dort eingesetzt wird, wo Folgen der wertfreien Impfpflicht unkontrollierbar werden. Doch selbst der "Zwang" ist in einer Demokratie nicht wörtlich zu verstehen und bedeutet eine durch Strafen unterstützte Impfpflicht.

Noch einmal zu den Kombinationen: Wenn Pflichtvergessene sich aufgrund ihres Impfpflichtbewusstseins entpflichten und sich pflichtwidrig zu Verpflichtungslosen erklären, wird portopflichtig an die Impfpflicht erinnert.