Realist oder Kriegsverbrecher

Zum 100. Geburtstag des kontroversen Henry Kissinger

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

1952, als Henry Kissinger mit 28 Jahren nicht sicher war, ob die ersehnte akademische Karriere in Harvard möglich sein könnte, gründete er ein Magazin. Er nannte es 'Confluence' (die Zusammenarbeit von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen), und konnte wichtige Intellektuelle seiner Zeit dafür gewinnen wie Hannah Arendt, Raymond Aron (französischer Philosoph), Lillian Smith (amerikanische Schriftstellerin) und Arthur Schlesinger Jr (Historiker und zweifacher Pulitzer-Preisträger). Es gab kein zweites Magazin mit derart einflussreichen Autoren und Autorinnen. Kissinger zeigte mit dieser Vielfalt von kontroversen Texten die Grundlage seiner späteren politischen Position: 'Die Politik des Realismus - die Verteilung der Macht in internationalen Systemen'.

Deutschland

In Deutschland aufgewachsen während des Zerfalls der 'Weimarer Republik', litt Kissinger zeitlebens unter dem Trauma, eine schwache Demokratie könnte dem Totalitarismus die Türen öffnen. Er verteidigte radikale Positionen in seinem Magazin mit dem Argument, ein Staat müsse sich gegen jede Art von Gefahr mit allen nur möglichen Mitteln wehren. Seine strategische Rücksichtslosigkeit wurde in zahlreichen Publikationen kritisiert. Seymour Hersh nannte ihn in dem Buch 'The Price of Power' einen 'verwirrten Paranoiker' und in 'The Trial of Henry Kissinger' verurteilte Christopher Hitchens ihn als 'Kriegsverbrecher'. Ein Dutzend Bücher sind über ihn erschienen, die sich in drei Gruppen teilen: Die Rechten loben, die Linken verteufeln ihn, und eine dritte Gruppe versucht, auf Grundlage seiner Entscheidungen seinen Rationalismus des 'politisch Machbaren' zu analysieren. In einem neuen Buch von Barry Gewen ('The Inevitability of Tragedy'), behauptet der Autor, Kissingers Außenpolitik sei so ungewöhnlich gewesen, weil sein Pragmatismus allem widersprechen würde, 'was Amerikaner glauben oder glauben möchten'.

Fußball

Heinz Alfred Kissinger wurde am 27. Mai 1923 in Fürth, in der Nähe von Nürnberg, geboren. Sein Vater, Louis Kissinger, unterrichtete Geschichte und Geografie, seine Mutter, Paula Kissinger, war die Tochter eines wohlhabenden Viehhändlers. Kissinger war in seiner Kindheit ein begeisterter Fußballfan und spielte bei dem Verein SpVgg Fürth. Bis heute verfolgt er die Ergebnisse des Klubs. 1933 teilte die

Vereinsleitung dem neunjährigen Fußballtalent mit, dass Buben aus jüdischen Familien nicht mehr in der Mannschaft spielen und den Verein nicht betreten dürften. Der junge Kissinger akzeptierte den Ausschluss nicht und schlich sich mehrere Male ins Stadion, um die Spiele seines Teams zu verfolgen. Wie er in seiner Biografie schrieb, kam es immer wieder zu Prügeleien mit der Polizei und Mitgliedern der SA, wenn er entdeckt wurde. Er durfte die Schule nicht mehr besuchen und sein Vater wurde aus dem Schuldienst entlassen.

1938, kurz vor der 'Kristallnacht', konnte die Familie Deutschland verlassen und ließ sich in New York, in Washington Hights, nieder, wo viele deutschsprachige Flüchtlinge lebten, dass es scherzhaft als das 'Vierte Reich' bezeichnet wurde.

Seine Eltern verboten den Kindern, zu Hause deutsch zu sprechen. Aus Heinz wurde Henry Kissinger. Dennoch hat er nie seinen Akzent verloren.

Ich hatte das Vergnügen, ihn ein einziges Mal bei einer Veranstaltung in Chicago kennenzulernen. Er fragte mich, von wo ich kommen würde, aufgrund meines Akzents. Als ich antwortete, ich käme aus Wien, sagte er lachend, ich sollte in den USA in die Politik gehen. Es sei das einzige Land der Welt, wo man mit einem Akzent sogar Außenminister werden könne.

Militärzeit

1942 meldete sich Kissinger zur Armee. Während der Ausbildung lernte er den Philosophen und Politologen Fritz Kraemer kennen, einen der wichtigsten Vertreter der neokonservativen Bewegung in den USA. Über ihn sagte Kissinger: "Während der folgenden Jahrzehnte beeinflusste Kraemer mein Denken, die Wahl meiner Universität, mein Interesse für politische Philosophie und Geschichte, inspirierte meine akademischen Publikationen und wurde zu einem integralen und unverzichtbaren Teil meines Lebens."

Kraemer studierte in London, Genf und Frankfurt und war als Lutheraner ein erklärter Gegner der Nazis. Er emigrierte zuerst nach Rom, nach der Allianz zwischen Hitler und Mussolini flüchtete er in die USA. Gemeinsam mit Kraemer diente Kissinger in der 84. US-Infanteriedivision und beide kämpften in der Einheit, die am 10. April 1945 das KZ Hannover-Ahlem befreite. Kissinger gelang, aufgrund seiner Sprachkenntnisse eine geheime Gestapo-Gruppe aufzudecken und bekam dafür den Orden 'Bronze Star'.

Harvard

1947 begann Kissinger mit den Studien Politikwissenschaften und Englische Literatur in Harvard. In seiner Doktorarbeit "Der Wiener Kongress und seine Konsequenzen' schrieb er von den historischen Lehren, die aus dem gemeinsamen Kampf Österreichs und Großbritanniens gegen Napoleon auf den Konflikt mit der Sowjetunion übertragen werden könnten. Trotz seiner Kritik an Metternich wird er immer wieder als der 'Amerikanische Metternich' bezeichnet.

1957 veröffentlichte er das Buch 'Atomwaffen und Außenpolitik' und etablierte sich damit als wichtiger Berater amerikanischer Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten. Eisenhower holte ihn in sein Team. Er arbeitete für Nelson Rockefeller und McGeorge Bundy, dem Nationalen Sicherheitsberater von John F. Kennedy.

1958 definierte er seine politische Philosophie: "Kapitalismus bedeutet Freiheit für eine Gesellschaft und ist revolutionärer als der Sozialismus des 19. Jahrhunderts." In den 60er-Jahren engagierte ihn Präsident Johnson und feuerte ihn, nachdem Kissinger öffentlich den Vietnam- Krieg kritisierte. Kissinger war kein Kriegsgegner, jedoch ein Gegner 'sinnloser Kriege'. Kriege seien nicht unvermeidlich, sagte er in einem Vortrag, doch die Vorbereitung und Planung eines Krieges könne beeinflusst werden.

Außenminister

Die Höhepunkte seiner Karriere fallen in die Jahre der Zusammenarbeit mit Richard Nixon. 1968 wird er 'National Security Advisor' und bereitet 1971 die Normalisierung zwischen der USA und der VR China vor. In Moskau erreicht er das erste Abkommen zur Rüstungsbegrenzung. 1973 beginnt er mit Verhandlungen mit Nord-Vietnam. 1975 endet der Vietnam-Krieg. 1973 wird er zum Außenminister ernannt. Er behält diese Position auch unter Gerald Ford. 1973 und 1974 verhandelt er die Beendigung des 'Jom-Kippur-Krieges' zwischen Israel und den arabischen Nachbarn.

Neben all den außenpolitischen Erfolgen stehen die beiden dunkelsten Kapitel seiner Karriere: Die Planung und Organisation des Militärputsches in Chile, um den demokratisch gewählten Präsidenten Allende zu stürzen. "Wir können nicht einfach zusehen, wenn die Kommunisten ein Land übernehmen", begründete er das Eingreifen der USA. Und die völkerrechtswidrige Bombardierung von Kambodscha, um Nachschublinien für Nord-Vietnam zu zerstören. Die Destabilisierung Kambodschas führte 1975 zur Machtübernahme der kommunistischen Roten Khmer, unter deren Herrschaft 2,2 Millionen Kambodschaner ermordet wurden.

Ukraine

Mit der Präsidentschaft von Jimmy Carter im Jahr 1977 legte Kissinger alle offi ziellen Positionen zurück, doch sein Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen reichen von Obama über Trump bis zur Regierung Biden. Kissinger ist nicht einzuordnen. Für die einen ein Held, für andere ein unberechenbarer, eiskalter Zyniker. Zu dem aktuellen Konflikt USA/China sagte er vor Kurzem: "Ich glaube nicht, dass China eine Weltmacht werden will, es könnte jedoch so mächtig werden, dass es einfach eine ist. Und das kann nicht das Interesse der USA sein."

Den Überfall auf die Ukraine kommentierte er mit seiner eigenen Logik. Er forderte die Ukrainer auf, "den Heldenmut, den sie gezeigt haben, mit Weisheit zu überbieten", und warnte, dass es bei Fortsetzung des Krieges "nicht um die Freiheit der Ukraine gehen würde, sondern um einen Krieg gegen Russland, der nicht zu gewinnen sei".