"Die Hauptstadt": Robert Menasses bittersüßer Blick auf Europa

Der Autor legt großen Roman zur EU vor und schafft ein vielstimmiges Kompendium unserer Zeit

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Als prägnanten Auftakt hatte der 63-Jährige zunächst 2012 seine Streitschrift "Der Europäische Landbote" veröffentlicht, in welcher er in bester aufklärerischer Manier ein flammendes Plädoyer für ein Europa der Regionen und eine Verteidigung der in den Nationalstaaten oftmals geschmähten EU-Institutionen vorgelegt hatte. "Die Hauptstadt" nun ist ein vielstimmiger Roman, der zugleich Abgesang auf eine Epoche des Kontinents wie teils skurrile Feier seines Charakters ist.

Die Stadt Brüssel spielt die Hauptrolle und ist zugleich Hauptspielort des Romans. In dessen Zentrum stehen unterschiedliche Protagonisten, die doch im Kern eint, an der Zukunft Europas zu arbeiten - mal als Karrieristen, mal als Idealisten. Fenia Xenopoulou ist eigentlich erfolgreiche Beamtin der Kommission, die allerdings in der Generaldirektion Kultur auf einem karrieretechnischen Abstellgleis gelandet ist, von dem sie sich mit Vehemenz zu befreien sucht. Da kommen die geplanten Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Kommission gerade recht, die sie unter ihre Fittiche nimmt. Ihr Referent Martin Susman soll dazu die Ideen entwickeln, auch wenn der Österreicher, der sich von einer Familie von Schweinebauern nach Brüssel vorgearbeitet hat, derzeit primär mit seinem eigenen Sein hadert.

David de Vriend ist indes über derlei Unbilden schon lange hinweg. Nachdem er als Kind einst dem Deportationszug ins Konzentrationslager entkommen war, verdämmert er nun in einem Altenheim nahe dem Friedhof in Richtung Tod. Kommissar Emile Brunfaut sieht sich vor der für ihn untragbaren Situation, aus politischen Gründen einen Mordfall ad acta zu legen, während sich der emeritierte Volkswirtschafter Alois Erhart in einem Thinktank gegen das unbedeutende Verhallen der eigenen Worte kämpft und eine spektakuläre Idee entwickelt.

Hier spannt Menasse ein Gerüst über die Geister der Vergangenheit und der Zukunft, über persönliche Empfindungen hin zum großen Ganzen. Eine leise Kakophonie entsteht vor den Augen des Lesers, die gerahmt wird von ebenso leiser Ironie. So wird Brüssel als surreale Klammer von den wiederholten Sichtungen eines Hausschweins an verschiedenen Orten der Stadt in Atem gehalten. Und die EPP, die European People's Party im EU-Parlament, versucht sich ihr Akronym zu sichern, auf das auch die European Pig Producer, also die vereinigten Schweinezüchter, Anspruch erheben.

Es überrascht beinahe, dass "Die Hauptstadt" in ihrer Tonalität wehmütiger gehalten ist als der "Landbote". Menasse zeigt ein Europa in der Blauen Stunde, einen Kontinent, der auf der Suche ist, nach dem nächsten Sonnenaufgang, ohne zu wissen, wo dieser stattfindet. Es ist kein Abgesang, aber auch keine Lobeshymne, die hier entworfen wird, sondern ein bittersüßer Blick, der sich ungeachtet seines episodischen Charakters mit nahtlosen Übergängen Zeit für seine Protagonisten nimmt. So zeichnet Menasse in wenigen Strichen markante, eigenständige Charaktere, Menschen aus Fleisch und Blut, die zugleich über ihr individuelles Dasein hinaus archetypische Bedeutung haben. "Er täuschte Begehren vor, sie täuschte einen Orgasmus vor. Die Chemie stimmte", etwa umreißt in zwei Sätzen die Dynamik einer Beziehung.

Die Bürokratie und ihre Bewohner wird zwar seziert, und doch bleibt stets präsent, dass nicht hierin die eigentliche Krise der EU besteht, sondern in der Egozentrik der Nationalstaaten. Entweder stirbt auf lange Sicht die EU, oder es sterben die Nationalstaaten - diese harte Prognose steht hinter dem Erzählfluss. Und so ist "Die Hauptstadt" ein wahrhaft zeitgenössischer Roman geworden, der als Zeitdokument und Bestandsaufnahme zugleich über seine Zeit hinausblickt - und mit dem Schwein die vielleicht stimmigste Universalmetapher gefunden hat.

Das Buch, das sowohl für den Deutschen wie für den Österreichischen Buchpreis im Rennen ist, wird am 12. September im Wiener Rabenhof präsentiert.