Von Mutzenbacher bis Bambi

Das vergessene Genie Felix Salten

von Felix Salten, Plakat © Bild: imago images/Viennareport

Man wird kein Denkmal in Wien finden, das an den österreichisch-ungarischen Autor Felix Salten erinnert, keinen Journalistenpreis, der ihm zu Ehren vergeben wird. Die heimatliche Journalistengeneration, die jetzt das europäische Mittelmaß vertritt, unbedeutend selbst im deutschen Sprachraum, jedoch mit Auszeichnungen geschmückt wie ein Offizier der Roten Armee, hat jene bewusst oder unbewusst verdrängt oder vergessen, die einst das Niveau in den Medien diktierten und aus der österreichisch-ungarischen Monarchie kamen.

Vor hundert Jahren, im Sommer 1922, erschien "Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde" als Fortsetzungsgeschichte in der "Neuen Freien Presse" in Wien. Der Ullstein Verlag publizierte die Erzählung 1923, gab jedoch die Rechte bald wieder an den Autor zurück. Das Buch interessierte niemanden. Der Zsolnay Verlag in Wien übernahm die Neuauflage und "Bambi" wurde ein internationaler Bestseller. In den USA erschien es 1928 in einer schlechten Übersetzung von Whittaker Chambers, der nur geringe Deutschkenntnisse hatte. Innerhalb weniger Jahre wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Verfilmung

1942 verfilmte Disney den Roman, kaufte die Filmrechte für "Bambi" um 1.000 US- Dollar von Felix Salten und verdiente mit der Verfilmung fast 300 Millionen US-Dollar. Nach dem heutigen Wert entspricht das etwa dem Zehnfachen. Nicht nur die Handlung veränderte Disney. Aus einer düsteren Geschichte für Erwachsene voller Grausamkeit, Verfolgung und Tötung wurde ein Märchen für Kinder. Aus dem ursprünglichen Rehkitz im Buch von Salten machte Disney ein Weißwedelhirschkalb, da es in den USA keine Rehe gibt. Bei der deutschen Synchronisierung passierte der nächste Fehler und Bambi wurde wieder zum Rehkitz, der Vater blieb jedoch ein Weißwedelhirsch. Das alles änderte nichts an dem sensationellen Erfolg des Filmes, der mit bahnbrechender neuer Technik ein völlig neues Filmprodukt schuf. Unvergesslich die rührende Szene, als Fräulein Kaninchen versucht, Bambi das Eislaufen beizubringen, oder der Tod der Mutter, bei dem das gesamte Publikum jedes Mal zu weinen beginnt.

Mit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 durften keine zivilen Filmprojekte mehr produziert werden, nur noch kurze Propagandafilme im Auftrag des Verteidigungsministeriums. Bei "Bambi" machten die Behörden eine Ausnahme. Disney setzte eine neu entwickelte Multiplan-Kamera für realistische, dreidimensional wirkende Kamerafahrten durch eine Zeichentricklandschaft ein -einer der Gründe für den sensationellen Erfolg des Filmes. Die Weltpremiere war im August 1942 in London, nicht in den USA. Disney fürchtete Proteste der Jäger, die im Film als "Mörder" dargestellt werden. In Deutschland wurde er zum ersten Mal 1950 gezeigt.

Horrorgeschichten

Manche Rezensenten versuchten, in der Tiergeschichte Kritik am Antisemitismus zu erkennen, in den Rehen die verfolgte jüdische Minderheit. Doch Salten war selbst begeisterter Jäger und sein realistischer Stil spricht eher für die Beschreibung der Erlebnisse eines Jägers. "Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies. 'Bambi' wäre nie entstanden, hätte ich nicht meine Kugel auf das Haupt des Rehbocks gefeuert", sagte er in einem Interview. Stephen King, der Meister aller Horrorgeschichten, erklärte einmal, "Bambi" sei der erste "Horrorfilm" gewesen, den er gesehen hätte.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde "Bambi" als " zionistische Propaganda" verteufelt. Ab 1935 standen alle Bücher von Felix Salten auf der "Liste der schädlichen und unerwünschten Schrifttums"."Bambi" wurde mit "schädlichen" Büchern anderer Autoren und Autorinnen öffentlich verbrannt. Nur wenige Originalausgaben haben das Verbot und die Vernichtung überlebt.

Rabbinerfamilie

Siegmund Salzmann -bevor er 1911 seinen Namen in Felix Salten änderte - wurde 1869 in Pest in Ungarn geboren. Sein Vater, Philipp Salzmann, stammte aus einer Rabbinerfamilie, brach jedoch mit der religiösen Tradition und versuchte es als Geschäftsmann. Bereits mit seinem ersten Projekt scheiterte er und die Familie zog nach Wien. Salten besuchte das Wasagymnasium im neunten Wiener Bezirk, musste es jedoch nach einem Streit mit einem Lehrer frühzeitig verlassen, schlug sich als Versicherungsvertreter durch und bewarb sich als Journalist. Es fehlte ihm anfangs das "Netzwerk" seiner Konkurrenten, die mit ihrem "großbürgerlichem" Background eher Zugang zu Verlegern und Chefredakteuren fanden. Seine erste Veröffentlichung war ein Gedicht in der Literaturzeitschrift "An der schönen blauen Donau" bereits unter dem Namen Felix Salten.

Erste journalistische Erfahrungen sammelte er bei der "Allgemeinen Kunst-Chronik", bis er 1894 in der "Wiener Allgemeinen Zeitung" das Theaterreferat übernahm. Hier erschienen unter dem Titel "Quer durch den Wurstelprater" seine ersten literarischen Texte. Der Kreis "Jung-Wien" mit Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Hermann Bahr wurde auf ihn aufmerksam. Er bekam Angebote von Zeitungen und Verlagen und war ab der Jahrhundertwende einer der bekanntesten Autoren im deutschen Sprachraum. 1906 nahm er das Angebot des Ullstein Verlags als Chefredakteur der "Berliner Morgenpost" an, kehrte jedoch bald nach Wien und zur "Zeit" zurück. 1912 übernahm er das "Fremden-Blatt" als Chefredakteur. Mit seiner vielfältigen Begabung und der ständigen Geldnot ignorierte er alle schriftstellerischen Grenzen. Er veröffentlichte Erzählungen, Novellen und Romane, schrieb Operettenlibretti wie zu "Reiche Mädchen" von Johann Strauss, eine Monografie über Gustav Klimt und das Drehbuch zu "'Der Shylock von Krakau" und "Der Narr des Schicksals", bei dem er Regie führte.

Saltens Autorschaft des anonym erschienenen Romans "Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt"(1906) ist bis heute nicht geklärt -Salten stritt sie nie ab, bestätigte sie auch nicht. Definitiv stammt die pornografische Erzählung " Albertine" von Salten, die in seinem Nachlass überliefert ist und literarisch Ähnlichkeiten mit dem Buch "Josefine Mutzenbacher" zeigt. Sowohl Karl Kraus als auch Egon Friedell sollen angeblich Salten als Autor genannt haben. Da niemand aus Angst die Autoren-oder Urheberrechte geltend machte, erschienen bald Dutzende Nachdrucke und Fortsetzungen. Von 1927 bis 1933 wirkte Salten als Präsident des Österreichischen PEN-Clubs. Nach der Bücherverbrennungen in Deutschland musste er zurücktreten.

Exil

Mit Hilfe seiner Tochter, die durch Heirat die Schweizer Staatsbürgerschaft besaß, gelang Salten die Flucht in der Schweiz. Am 3. März 1939 verließ er Wien, zog nach Zürich und schrieb weitere Tiergeschichten. Am 8. Oktober 1945 starb Felix Salten, einsam und vergessen, und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Zürich begraben.

Saltens Bücher kennt heute kaum jemand, oder sie werden - wie "Josefine Mutzenbacher" und "Bambi" - mit ihm nicht in Verbindung gebracht. Sein schriftstellerisches Talent von pornografischen Texten bis zu Tiermärchen zeigt einen schonungslosen, realistischen Stil mit fotografischer Präzision. In der Novelle "Freunde aus aller Welt" über einen Zoo schreibt er, hier seien alle mit "lebenslänglich" bestraft worden und dennoch unschuldig.

Extrem wie die inhaltlichen Unterschiede zwischen "Mutzenbacher" und "Bambi" verlief sein Leben. Ständig in Geldnot trotz großzügiger Honorare, betrog er Kollegen, hatte Affären mit ihren Partnerinnen und war in zahlreiche Ehrenbeleidigungsprozesse und Duelle verwickelt. Bekannt für öffentliche Streitereien mit Schriftstellern, die seine "Vielschreiberei" kritisierten, endete eine dieser lautstarken Auseinandersetzung mit einer Ohrfeige, die er Karl Kraus im Café Griensteidl gab, weil dieser sein neues Buch verrissen hatte. Die Wiederentdeckung des Autors geht von den USA aus, mit neuen authentischen Übersetzungen seiner Tiergeschichten anlässlich des 100. Jahrestags des Erscheinens von "Bambi".