EU-Vorsitz: Estland übergibt an Bulgarien, und das an Österreich

Ratspräsidentschaft als Test für Europafreundlichkeit - EU in Flüchtlingsfrage auseinandergedriftet

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Zunächst ist aber Bulgarien an der Reihe. Estland könne den EU-Ratsvorsitz "ruhigen Herzens" weitergeben, sagte der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas unlängst. Sein Land habe "sein Bestes" gegeben. Inhaltlich hat sich Estland die digitale Entwicklung zum Schwerpunkt gesetzt. Beim Digital-Gipfel Ende September in Tallinn gab es ein Bekenntnis zu superschnellem Internet.

Doch überstattet wurde der Gipfel, wie auch das ganze Semester von anderen Themen: etwa der Debatte um eine Reform der EU vor dem Austritt Großbritanniens oder der Flüchtlingspolitik. Während es in den Brexit-Verhandlungen zu Fortschritten gekommen ist, driftete die Union in Fragen der Migration und europäischer Werte unter estnischem Ratsvorsitz weiter auseinander.

Die Kritiker der Quotenregelung wurden immer mehr. Sie beschränken sich nicht mehr auf die Visegrad-Länder (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei). Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) stellte sich zuletzt skeptisch zur Flüchtlingsverteilung sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk. Gegen Tusks Heimatland Polen leitete die EU erstmals in ihrer Geschichte ein Strafverfahren ein, das zu einem Stimmrechtverlust führen kann. Ähnliche Versuche, die Unabhängigkeit der Justiz einzuschränken, startete auch Rumänien.

Bulgarien macht sich das Motto "Einigkeit macht stark" zum ehrgeizigen Ziel seiner ersten EU-Ratspräsidentschaft. Das Balkanland, das 2007 der EU beitrat, will mit Konsens, Konkurrenz und Kohäsion zu Sicherheit, Stabilität und Solidarität in Europa beitragen. Konsens will Sofia in den Bereichen Sicherheit und Migrationspolitik finden. Die Konkurrenz im Digitalmarkt soll gefördert und Kohäsion, also Zusammenhalt, innerhalb der EU gestärkt werden. Dies soll vor allem durch eine Angleichung der Lebensverhältnisse erreicht werden.

Ein weiterer Schwerpunkt Bulgariens ist die EU-Erweiterung des Westbalkans. Bei einem EU-Gipfel im Mai soll in Sofia die europäische Perspektive des Westbalkans bekräftigt werden. Im Mai 2018 wird außerdem die EU-Kommission einen Vorschlag für den mehrjährigen EU-Finanzrahmen nach 2020 vorlegen. Dies ist der offizielle Startschuss für den nächsten Streit ums Geld auf europäischer Ebene.

Fortgesetzt wird das Feilschen voraussichtlich während des österreichischen Vorsitzes ab Juli 2018. Außerdem sollen unter österreichischem Vorsitz die Brexit-Verhandlungen abgeschlossen werden. Der Scheidungsvertrag muss danach von den EU-Staaten ratifiziert werden. Großbritannien will am 29. März 2019 aus der EU austreten.

Als Schwerpunkte hatte Kanzler Kurz bisher die Bewältigung der Migrationsströme, mehr Subsidiarität - also mehr Eigenverantwortung der Nationalstaaten und Regionen und weniger, dafür ein effizienteres Europa - sowie den Westbalkan genannt. Im Regierungsprogramm treten ÖVP und FPÖ für einen "europäischen Subsidiaritätspakt" ein. Sie wollen "den EU-Ratsvorsitz nützen, um zu einem Kurswechsel in der EU hin zu mehr Bürgernähe beizutragen".

Der erste Kalenderentwurf für das zweite Halbjahr 2018 sieht fast hundert Ratssitzungen vor, von denen mehr als zwei Drittel in Brüssel stattfinden. Der Rest sind informelle EU-Ministerräte in Österreich. Dazu kommt am 20. September ein EU-Sondergipfel zum Thema Innere Sicherheit in Wien. Gerade die Sitzungen im Inland kann die Bundesregierung nutzen, um ihre EU-Kompetenz auch zuhause zur Schau zu stellen.

Anders als Estland, Bulgarien und Rumänien, das dann 2019 den EU-Vorsitz von Österreich übernimmt, kann Österreich auf Erfahrung zurückgreifen. Hatte die Alpenrepublik bereits zweimal - 1998 und 2006 - die Ratspräsidentschaft inne. 1998 in der Endphase der zweiten Großen Koalition, im Jahr 2006 unter - nach der Abspaltung des BZÖ von der FPÖ - Schwarz-orange. Innenpolitisch veränderten die Ratspräsidentschaften einiges. In beiden Fällen verloren die Regierungsparteien bei den darauffolgenden Wahlen massiv, und die beiden Bundeskanzler - Viktor Klima (SPÖ) im Jahr 1999 und Wolfgang Schüssel (ÖVP) im Jahr 2006 - wurden abgelöst.