"European Voices" will von Wien aus EU-Debatte prägen

von "European Voices" will von Wien aus EU-Debatte prägen © Bild: APA/APA/AFP/ALEX HALADA

Thomas Seifert ist einer der Gestalter des Magazins

Print ist doch nicht so tot: Wenige Monate nach dem von Türkis-Grün verfügten Ende für die älteste Tageszeitung der Welt hat in Wien eine Zeitschrift mit europäischem Anspruch das Licht der Welt erblickt: Ein Ex-Präsident, zwei Ex-Premiers und drei Ex-Außenminister standen Pate, als am Donnerstagabend im Theatermuseum das Magazin "European Voices" vorgestellt wurde. "In der größten Medienkrise aller Zeiten gehen wir in die Offensive", sagte Co-Chefredakteur Thomas Seifert.

Der frühere Chefredakteur der "Wiener Zeitung" gestaltet das englischsprachige Medium gemeinsam mit seiner langjährigen Redaktionskollegin Martyna Czarnowska. Getragen wird das Projekt (Zielauflage 50.000 Stück) von der Tageszeitung "Die Presse" und der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN), deren Präsident Wolfgang Schüssel (ÖVP) von einem "historischen Moment" sprach. Die Vierteljahresschrift soll als Diskussionsplattform insbesondere für Experten und Praktiker aus der Region Mittel-, Mittelost- und Südosteuropa dienen, die in europapolitischen Debatten meist unter ihrem Wert geschlagen wird.

"Die Erweiterung, die Verteilung der Finanzströme zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern, die militärische Sicherheit, die Migrationsfrage, die Qualität von Demokratie und Rechtsstaat: Alle diese Fragen werden in dieser Region entscheidend geprägt und mitentschieden", sagte Schüssel, der für die erste Ausgabe des Hefts ein durchaus kontroversielles Gespräch mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán führte.

Die inhaltliche Ausrichtung der Zeitschrift sei "sehr einfach: pro Europa, pro Marktwirtschaft, pro Subsidiarität, pro Demokratie und pro Rechtsstaat", sagte Schüssel. "Wir wollen eine offene Plattform sein." Ähnlich äußerte sich der stellvertretende Chefredakteur der "Presse", Christian Ultsch. Er glaube, dass eine solche Debatte gerade von Österreich aus bewerkstelligt werden müsse, sagte der "Presse"-Außenpolitikchef dem hochkarätigen Publikum, darunter neben zahlreichen Chefredakteuren und Spitzendiplomaten auch Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) und die früheren Chefdiplomatinnen Ursula Plassnik, Benita Ferrero-Waldner (ÖVP) und Peter Jankowitsch (SPÖ).

Schüssel verriet, dass Plassnik "Mastermind" des Projekts gewesen sei und auch den Namen des Magazins ersonnen hat. Sie diskutierte anschließend mit drei weiteren Mitgliedern des Fachbeirates der Zeitschrift, dem slowenischen Ex-Präsidenten Danilo Türk, dem bulgarischen Star-Soziologen Ivan Krastev und dem slowakischen Ex-Premier Mikuláš Dzurinda auf hohem Niveau über die aktuelle europapolitische Lage.

Plassnik machte dabei klar, was sie von der österreichischen Besessenheit von der Neutralität hält. Wenn internationale Kollegen sie danach fragen, "dann sage ich ihnen: Fragt nicht mich, sondern fragt Professor Sigmund Freud". Sicherheitspolitik, der Schutz des eigenen Territoriums sei "eine ernste Angelegenheit" und man sollte Fakten nicht leugnen. "Ich würde mir wünschen, dass Österreich aufwacht und sich der Herausforderung stellt" statt sie ständig "wegzuträumen", formulierte die Ex-Außenministerin. Sie sei zwar froh, dass die Bundesregierung sicherheitspolitisch "Schritte in die richtige Richtung" mache, doch brauche es auch eine öffentliche Diskussion darüber.

Dzurinda beklagte die Selbstzufriedenheit der Bürger in den neuen EU-Staaten 20 Jahre nach der Erweiterung. "Wie kann es sein, dass in der Slowakei 60 Prozent der Menschen sagen, dass die NATO, EU und die USA für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind? Da ist etwas gehörig daneben gegangen", forderte er eine Rückkehr zu einer "positiven Entwicklung". Gerade Projekte wie "European Voices" könnten dazu beitragen, weil sie auch Menschen aus den neuen EU-Staaten zu Wort kommen lassen. "Ich werde 'European Voices' mit Freude jeden Tag vor 'Politico' lesen", sagte er mit Blick auf das wichtigste Brüsseler EU-Onlinemedium. Als Grund für die Politikverdrossenheit machte Dzurinda die "völlige Inkompetenz" vieler Politiker aus, doch hoffe er auf eine Rückkehr "zu einer normalen politischen Entwicklung". Diesbezüglich sei etwa der jüngste Regierungswechsel in Polen "eine starke Ermutigung" gewesen.

"Wir leben in einer Zeit, in der die Europäische Union mit der realen Gefahr von Stagnation und einem möglichen Rückbau konfrontiert ist", sagte Türk. Auch das internationale System zerfalle, ohne dass sich eine neue Führungsstruktur herauskristallisiere. Deshalb sei eine offene Diskussion ohne Vereinfachungen wichtig, ließ der frühere UNO-Spitzendiplomat Unbehagen mit der vorherrschenden Meinung etwa im Russland-Ukraine-Konflikt anklingen. So schreibe niemand über die "Komplexität" der Ukraine, "aus Furcht, dass man damit die russische Aggression rechtfertigen würde". Auch lese man viel darüber, dass Kreml-Chef Wladimir Putin in seinem Tun "paranoid" sei. "Aber vielleicht gibt es auch woanders Paranoia?", so der frühere Stellvertreter von Ex-UNO-Generalsekretär Kofi Annan.

Derzeit werde Friede als Folge eines ukrainischen Sieges im Krieg gedacht, so Türk. "Aber was ist, wenn es dazu nicht kommt?" Krastev gab darauf eine klare Antwort. "Wenn die Ukraine verliert, wird es schwierig für Europa", sagte der einflussreiche bulgarische Denker. Nur in den USA und Europa sei nämlich die Vorstellung verbreitet, dass es sich rein um einen Krieg zwischen Moskau und Kiew handelt. "Außerhalb Europas herrscht der Eindruck vor, dass das ein Krieg zwischen Russland und dem Westen ist", so Krastev.

Europa stehe erst am Beginn einer "sehr schnellen Veränderung" ohne sich dessen richtig bewusst zu sein. "Nichts ist schlimmer als einen Status Quo verteidigen, den es nicht mehr gibt", sagte der Soziologe, der dafür ein plastisches Beispiel brachte. Die Ukraine habe zu Kriegsbeginn genug Munition gehabt, um sich sechs Wochen lang verteidigen zu können. Dagegen wäre Deutschland mit seinem Munitionsarsenal gerade einmal sechs Tage ausgekommen, so Krastev. Und in Anspielung auf die Diskussion über eine europäische Atombombe meinte er, dass in den nächsten Jahren - außerhalb Europas - sieben neue Atommächte entstehen werden.