Einsamkeit als Epidemie

Rückzug wird zur Zivilisationskrankheit

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Vor einer Woche spielte ich in der Mannschaft unseres Tennisklubs gegen einen anderen Klub. Einzel und Doppel, eines nach dem anderen. Mein Spiel dauerte nicht sehr lang. Die Gegner waren einfach zu gut, und ein starker Wind trieb die Bälle in Kurven über das Netz, so dass ich oft nicht wusste, wo sie wirklich waren.

Nach meiner Niederlage ging ich duschen und ins Restaurant des gegnerischen Klubs, mit einer Terrasse und Blick auf die Tennisplätze. Ich saß dort mit einem Glas

Apfelsaft und wartete auf meine Mitspieler, die noch andere Spiele beobachteten. Neben mir sammelten sich meine Gegner um einen leeren Tisch, redeten, lachten und prosteten einander zu. Ich saß alleine mit meinem Apfelsaft. Niemand sprach mich an, niemand lud mich ein, am Tisch der Heimmannschaft Platz zu nehmen.

Ablenkung

Definitionen von Einsamkeit erübrigen sich bei solchen Erlebnissen. Eine Umgebung von Menschen, die dich ignorieren, erlebt man wie eine Bestrafung, wie Einzelhaft, wie einst im Kindergarten strafweise in der Ecke zu stehen. Einsamkeit als kurzzeitiges Gefühl ist unangenehm, ärgerlich, dennoch erträglich. Man versucht, es zu überbrücken, mit dem Mobiltelefon, Fernsehen oder einer Zeitung. Unterschiedlich empfunden, lässt es sich als Störung nicht so leicht definieren. Manche erleben den Aufstieg auf einen Berg umgeben von menschenleerer Natur als weniger einsam als eine laute Gesellschaft, in der man sich verloren fühlt.

Demgegenüber kann die anhaltende Einsamkeit, das sich wiederholende Gefühl von Ohnmacht und Leere in Resignation, Verzweiflung und einen langsamen Rückzug übergehen. Bei Untersuchungen in Europa und den USA bestätigten etwa 50 Prozent der Befragten, immer wieder an Einsamkeit zu leiden. Zu Beginn sind die Phasen kürzer, dann werden sie länger und schließlich unerträglich lang. Das "Alleinsein" wird anfangs oft als angenehm kultiviert, man brauche niemanden, es würden einem ohnehin alle auf die Nerven gehen. "Lieber allein als in schlechter Gesellschaft" - ein Leitspruch jener, die sich erfolgreich selbst belügen.

Massenphänomen

Der nächste Schritt - die "soziale/emotionale Isolation" - beschreibt einen objektiv quantitativen Mangel an Beziehungen und Kontakten, die Anzahl der Freunde und Freundinnen, die Größe des sozialen Netzwerks und die Häufigkeit von Interaktionen. Die Verharmlosung dieser Stimmung hält nicht lange an. Sie geht in einen schmerzhaften und krankhaften Zustand über, den Fachleute heute als medizinische Bedrohung ebenso ernst nehmen wie andere Zivilisationskrankheiten. Statistiker, die sich mit Isolation und Einsamkeit beschäftigen, beobachteten ein 29 Prozent höheres Risiko für Herzerkrankungen, 50 Prozent für Demenz, 32 Prozent für Schlaganfall und ein hohes Risiko für plötzliche, medizinisch nicht erklärbare Todesfälle. Was bis vor ein paar Jahrzehnten eher Psychologen beschäftigte, entwickelt sich zu einem vergleichbar gefährlichen Massenphänomen wie Rauchen und Übergewicht.

Zu den treibenden Kräften, die Menschen in die Isolation drängen, zählt einerseits der Wohlstand und anderseits eine "technologisch-praktische" Organisation des Alltags. Ein bekanntes Beispiel in der Literatur ist das Schicksal eines Lotteriegewinners. Er gibt seine Arbeit auf, verkauft sein Apartment, zieht in eine Villa. Ein großes Grundstück trennt ihn vom Nachbarn, zu dem es keinen Kontakt gibt. Statt im Flugzeug jemanden kennenzulernen, sitzt man allein im Privatflugzeug. Alltägliches wie Einkaufen wird von Bediensteten erledigt, Frisör und Work-out-Trainer kommen zu einem nach Hause. Das angenehme, luxuriöse Leben wird zu einer Investition in Einsamkeit und Isolation. Man bezahlt dafür, allein zu sein.

Mittelstand

Diese Strukturen reichen weit in den Mittelstand. Produkte bestellt man online, Gespräche mit Verkäufern und Verkäuferinnen sind Geschichte. Essen wird geliefert. Der Spaß geht verloren, in einem Restaurant andere Gäste beobachten, vielleicht über den dicklichen, glatzköpfigen Mann am Nebentisch zu scherzen, der mit weit aufgeknöpftem Hemd versucht, seine junge Freundin zu beeindrucken. Bekannte erzählen mir stolz, sie würden von zu Hause aus arbeiten, könnten sich die Zeit selbst einteilen. Die gemeinsame Mittagspause fällt weg, das Bier nach dem Büro. Sie definieren die Isolation als zivilisatorischen Fortschritt. Kommunikation über Social Media ersetzt persönliche Kontakte. 2018 hat die Regierung in Großbritannien das Thema Einsamkeit erstmals in einem Ministerium verankert, im "Ministerin für Sport, Zivilgesellschaft und Einsamkeit". Die verantwortliche Politikerin sagte in einem Interview: "Einsamkeit ist eine der größten Herausforderungen, denen das Land gegenübersteht. Sie ist ein komplexes Problem, jeder kann damit konfrontiert werden, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Einsamkeit vermittelt das Gefühl, isoliert und ganz unten zu sein. Auch das Selbstwertgefühl leidet in hohem Maß."

Hungergefühl

Kontakte zu anderen Menschen sind lebensnotwendig wie Essen, Trinken und Schlafen. Für die Einsamkeit entscheiden wir uns meist nicht freiwillig, sondern erleben sie als beklemmenden Zustand, aus dem man gerne ausbrechen würde - vergleichbar mit dem Hungergefühl, das uns motiviert, etwas zu essen zu suchen.

Zwei Formen von Einsamkeit definierte Johannes Bannwitz 2009:

Emotionale Einsamkeit - entsteht durch das Bedürfnis nach einer Bindung zu anderen Menschen, beschreibt das Fehlen von Beziehungen, durch welche Verbundenheit, Nähe und Intimität und damit Sicherheit und Geborgenheit erlebt werden.

Soziale Einsamkeit - entsteht durch das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Integration, Respekt und Anerkennung. Man hat das Gefühl, vergessen zu werden, als noch lebend bereits verstorben zu sein. Beginnt oft mit der Pensionierung, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Ablöse von einer einflussreichen Position.

Tratsch

Der Schriftsteller und Philosoph Yuval Harari beschreibt den Tratsch, ein manchmal endlos langes Gespräch über Nichtigkeiten, als den entscheidenden Unterschied zu den Tieren. Diese könnten zwar Informationen austauschen, jedoch nicht über Sinnloses einfach quatschen. Das Plaudern sieht er als Grundlage jeder sozialen und emotionalen Integration. Einsamkeit ist wie ein sprachloser Alltag in einer Grube, in die man hineingefallen ist. Um herauszukommen, benötigt es den Willen, zu klettern, und eine helfende Hand, die einem entgegengestreckt wird.

Nicht weit von meiner Wohnung in Wien wohnt Jerry in einem großzügigen Haus mit einem wunderbaren Garten, alten Bäumen, die in heißen Sommern dem Esstisch auf der Terrasse Schatten bieten. Jerry lädt einmal in der Woche zwei, drei ältere Freunde zum Mittagessen ein, holt uns heraus aus unserer Grube, macht sich oft die Mühe, den einen oder anderen von der Straßenbahnstation abzuholen, weil sie den steilen Weg zu seinem Haus kaum mehr schaffen. Wir scherzen, lachen, diskutieren und reden oft über Vergangenes, erinnern uns gegenseitig an Vergessenes. Jeder hatte ein aufregendes Leben, und wenn einer beginnt mit einem Erlebnis von "damals", braucht es zum Zuhören oft eine Menge Geduld. Doch es sind für uns schöne Erlebnisse, diese Mittagessen, und es ist der Idee und Mühe von Jerry zu verdanken, dass wir diese Unterbrechung der Einsamkeit erleben.

Mit Alfred, einem anderen Bekannten, den ich seit dem Studium kenne, gehe ich jede Woche zu Fuß zu einem Gasthaus, durch die Weinberge von Grinzing. Beide sind wir längst in Pension, arbeiten immer noch an kleinen Projekten, beobachten und beschreiben immer wieder, wie wir, einst erfolgreich in dieser Welt, jetzt langsam aus ihr verschwinden -doch es ist einfacher zu ertragen, wenn man sich zu zweit darüber lustig macht.

Wir könnten die Hand ausstrecken, um jemanden aus der Grube zu holen, oder wir helfen uns gegenseitig mit einer Art "Räuberleiter", um die Grube zu verlassen - bevor die "tratschlose" Einsamkeit zu einem medizinischen Problem werden könnte.