Als Stalin Kiew verlor

Die katastrophale Niederlage der Roten Armee

von Schlaglichter - Als Stalin Kiew verlor © Bild: imago images/ZUMA Wire

Bereits Ende Juli 1941, wenige Wochen nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion, erkannte Generalstabschef Georgi Schukow, dass die Hauptstadt Kiew nicht zu halten war. Er empfahl Stalin, Kiew aufzugeben und sich auf eine Verteidigungslinie vor Moskau zu konzentrieren. Stalin reagierte wütend und bezeichnete den Vorschlag als "dumm" und "unsinnig", worauf Schukow das Unmögliche wagte und um seinen Rücktritt bat, was unter Stalin so viel wie ein Todesurteil bedeutete.

Stalin reagierte überraschend zurückhaltend, übergab Schukow die Reservefront und befahl ihm, weiterhin Mitglied der Stawka zu bleiben, des Hauptquartiers der Roten Armee in Moskau - ein Dutzend andere Offiziere ließ er sofort erschießen. Stalin blieb während des Kampfes um Kiew in Moskau, traf Entscheidungen, ohne auf militärische Berater zu hören, fernab der Front und umgab sich mit Jasagern und Schmeichlern, die es nicht wagten, auch nur einen Gedanken oder Befehl von ihm zu kritisieren oder nicht sofort umzusetzen. Ein ähnlich strukturiertes Umfeld scheint Putin zu beeinflussen, wenn auch strategisch in einer anderen Situation, dennoch abgeschirmt durch zweifelhafte Fachleute, die ihm ergeben sind und ängstlich seine Anordnungen ausführen. Kritiker wurden längst entfernt. Ähnlich wie Stalin akzeptiert Putin keine Zweifel an seiner Strategie und könnte ebenso scheitern - diesmal bei der Übernahme von Kiew.

Blitzkrieg

Auch Hitler widersprach den Generälen in Bezug auf Kiew. Während sie darauf drängten, die gesamte militärische Kraft auf den Vorstoß auf Moskau zu konzentrieren, befahl er, große Teile der Armee abzuzweigen und zuerst Kiew einzunehmen. Er begründete es mit der wichtigen Rolle der Ukraine bei der zukünftigen Versorgung eines Großdeutschen Reichs und der Armeen, was Erstaunen in seiner Umgebung auslöste, da Hitler damit zum ersten Mal selbst an seiner "Blitzkrieg-Theorie" zweifelte. Er schien plötzlich begriffen zu haben, dass er die Armee auf einen längeren Kampf vorbereiten müsse.

Die Einnahme Kiews war der größte militärische Erfolg der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, und dennoch der Anfang der Niederlage Deutschlands. Der geplante "Blitzkrieg" Hitlers gegen die Sowjetunion scheiterte vor den Toren Moskaus wie Putins Plan, Kiew in weniger als drei Tagen zu übernehmen. In den ersten Stunden des Überfalls beschrieb Putin den Krieg gegen die Ukraine: Das sei wie eine Fliege, die einem in den Mund fliegt und die man einfach ausspuckt.

Widerstand

Nachdem im September 1941 der Kreis um Kiew sich immer weiter schloss, die Wehrmacht vorrückte und die Rote Armee die Stellungen rund um die Stadt nicht mehr halten konnte, drängte Michail Kirponos, Kommandeur der sowjetischen Westfront, die Stawka um Erlaubnis, seine Truppen hinter dem Fluss Dnjepr zu sichern. Stalin griff persönlich zum Telefon und warf Kirponos vor, "immer neue Rückzugslinien zu suchen, anstatt effektiven Widerstand zu leisten".

Rückzug

Marschall Budjonny, ein langjähriger Weggefährte Stalins, berichtete an die Kommandozentrale, dass jede weitere Verzögerung des Rückzugs gewaltige Verluste an Menschen und Material mit sich bringen würde. Stalin ersetzte ihn durch eine unerfahrenen Offizier, ersparte jedoch auch ihm das Todesurteil. Von allen Abschnitten der Front kamen am 14. September Katastrophenmeldungen und Vorschläge für ein geordnetes Zurückweichen. Stalin bezeichnete sie als "Panikmache" und drohte allen Offizieren, die ihre Stellungen verlegten, mit sofortiger Erschießung. Am 15. September erreichten Panzertruppen der Wehrmacht unter General Guderian die Truppen von General Kleist, und der Ring der Deutschen schloss sich um Kiew. Vier vollständige Armeen der Sowjetunion waren umzingelt, insgesamt 700.000 Mann.

Endlich entschloss sich Marschall Timoschenko, Stalins erster Stellvertreter, Kirponos den Rückzug zu befehlen. Die absurde Kommunikation zwischen den Generälen an der Front und der Zentrale in Moskau, ständig von Angst und Panik überlagert, etwas Falsches zu tun, führte zu einer Katastrophe. Kirponos verlangte einen schriftlichen Befehl von der Stawka, da er ohne Stalins Unterschrift nicht wagte, den Rückzug zu organisieren. Als dieser Befehl erst am 18. September eintraf, war es bereits zu spät. Nur noch einzelne, kleine Verbände konnten sich aus der Umzingelung befreien, Kirponos selbst wurde von einem Granatsplitter getötet.

Nationalisten

Am 26. September 1941 war der Widerstand zusammengebrochen. Russischen Offiziere, die versuchten, eine Verteidigung Kiews mit Hilfe der Bevölkerung zu organisieren, wurden neben der falschen Einschätzung der Wehrmacht von der passiven Haltung der Bewohner überrascht. Ein Teil sah in den Deutschen die "Befreier", konnte und wollte den "Todeshunger Holodomor" nicht vergessen, als Stalin mit Hilfe der Roten Armee Millionen Ukrainer verhungern ließ.

Die Vorwürfe Putins gegenüber der Ukraine und sein Ziel, es zu "entnazifizieren", stützt sich zum Teil auf Ereignisse während des 2. Weltkriegs, als viele Ukrainer mit den Deutschen kooperierten und sich an NS-Kriegsverbrechen beteiligten. Sie stellten zwei eigene Bataillone ("Nachtigall" und "Roland") für die Wehrmacht und eine eigene SS-Division mit ukrainischen Freiwilligen namens "Galizien". Ukrainer waren Handlanger bei Pogromen, Aufseher in den Konzentrationslagern und übernahmen im Auftrag der Deutschen öffentliche Posten, die zuvor von Polen oder Juden besetzt waren.

Die Ukraine hat bisher auf diesen Teil der Geschichtsaufarbeitung betreffend ihre eigene NS-Verbrechen großzügig verzichtet. Selbst nach dem Ende des Weltkriegs bis weit in 1950er-Jahre kämpften ukrainische Nationalisten gegen die Rote Armee. Manche dieser Gruppierungen orientierten sich an der Ideologie der Nationalsozialisten, kämpften als Partisanen, teilweise auch mit schweren Geschützen und Panzern. Tausende Tote auf beiden Seiten waren zu beklagen.

Verluste

In der Schlacht um Kiew in September 1941 wurden 150.000 sowjetische und 100.000 deutsche Soldaten getötet oder verwundet, 600.000 sowjetische Soldaten gefangengenommen. Historiker bezeichnen bis heute die Schlacht um Kiew als die größte Militäraktion der Geschichte. Mit Stalins sinnlosem Befehl, "Kiew unter allen Umständen zu halten", der Ermordung oder Versetzung der militärischen Elite, die ihm widersprach, wurde beinahe der Kampf um Moskau verloren. Nikita Chruschtschow, der spätere Ministerpräsident, schrieb in seinen Memoiren: "Unseren Einheiten wurde verboten, sich zu retten, ein absolut idiotischer Befehl mit enormen Verlusten von Soldaten und Material, ein Zeichen von Ignoranz, Unfähigkeit und Inkompetenz".

Historische Vergleiche

Putins Ankündigung, Kiew innerhalb weniger Tage "zu übernehmen" - trotz aller Warnungen der militärischen Berater und Offiziere - erinnert an den Eigensinn und die Fehleinschätzungen Stalins. Westliche Geheimdienste und Militärexperten, unter ihnen Justin Bronk vom Royal United Services Institute, gehen davon aus, dass die russischen Streitkräfte keinen ernsthaften Widerstand von ukrainischer Seite erwartet hatten. Die Truppen seien offenbar angewiesen worden, schnell vorzurücken und die wichtigsten Städte einzukreisen - statt den Vormarsch in großen, formierten Einheiten zu vollziehen, wie es die russische Doktrin normalerweise vorsehe. "Sie dachten, sie müssten die Städte nicht einnehmen, sie könnten einfach hineinspazieren und ein System der Unterdrückung aufbauen, das von loyalen Ukrainern angeführt wird", schrieb Bronk.

Historische Vergleiche hinken meist. Putin ist kein Stalin, kein Hitler und Selenskyj kein Churchill und kein De Gaulle. Militärische, strategische Fehler können sich eher wiederholen. Das hatte selbst Stalin erkannt, als er im Laufe des Krieges viele der degradierten Militärexperten in die Kommandozentrale zurückholte, ihre Ratschläge berücksichtigte und den Krieg gewann. Dieses Umdenken und die damit verbundenen Gefahr sind auch Putin zuzutrauen.