Scheideweg am Nil

Knapp zwei Jahre nach Mubarak stimmen die Ägypter über eine neue Verfassung ab

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Ägypten - Scheideweg am Nil

Die Muslimbrüder und die mit ihnen verbündeten Salafisten sind die Väter dieser neuen Verfassung. Sie preisen ihren von Menschenrechtlern im In- und Ausland kritisierten Verfassungsentwurf als Masterplan für einen "modernen demokratischen Staat".

Zwar konnten die Salafisten, die als Juniorpartner der Muslimbruderschaft in der Verfassungsgebenden Versammlung vertreten waren, nicht durchsetzen, dass die Scharia in dem Dokument als einzige Quelle des Rechts festgelegt wurde. Doch der Entwurf für die neue Verfassung ist aus ihrer Sicht "immerhin schon mal ein Schritt in die richtige Richtung".

Die Parteien der Islamisten konnten bei der ersten Parlamentswahl der Post-Mubarak-Ära mehr als 60 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Dennoch ist nicht sicher, dass ihre Verfassung bei der Abstimmung an diesem und am kommenden Samstag angenommen wird.

Muslimbrüder in Nöten

Denn vor allem die Muslimbrüder hatten in den ersten Monaten nach der sogenannten Revolution vom 25. Jänner noch von alten Sympathien aus ihrer Zeit als verfolgte Oppositionsbewegung profitiert. Das ist heute anders. Ihr Präsident Mohammed Mursi wird beschuldigt, wenn ein Bus mit Kindern von einem Zug zerschmettert wird. Sie werden beschimpft, wenn ein Journalist bei einer Protestkundgebung erschossen wird. Sehr geschadet haben dürften ihnen auch die jüngsten Berichte über die Misshandlung von Oppositionellen durch Anhänger der Muslimbruderschaft bei einer Kundgebung vor dem Präsidentenpalast am 5. Dezember.

Was den Islamisten allerdings in die Hände spielt, ist die chaotische Performance der Opposition, die aus Linken, Liberalen und einigen moderaten Islamisten besteht. Erst versuchte die Opposition wochenlang vergeblich, Mursi zu einer Verschiebung des Referendums zu bewegen. Als er sich darauf nicht einließ, drohten die Gegner der Islamisten mit einem Boykott der Abstimmung. Davon ließen sich die Islamisten aber nicht beeindrucken. Schließlich gab das größte Oppositionsbündnis - die Nationale Rettungsfront - drei Tage vor dem Referendum die Parole aus: "Geht zur Abstimmung und stimmt mit "Nein"!"

Opposition gibt Gas

Da es nun schon sehr spät war, gaben die Oppositionellen noch einmal richtig Gas. Die Revolutionsbewegung 6. April komponierte rasch einen Song, in dem die umstrittenen Artikel des Verfassungsentwurfs so erklärt werden, dass dies auch ungebildete Bürger verstehen können. Die Partei des Yuppie-Predigers Amr Chaled erklärte: "Wir werden dagegen stimmen, weil dieser Entwurf nicht das Ergebnis einer nationalen Willensbildung ist."

Dass sich die Islamisten bei ihrem Marsch durch die Institutionen nicht so einfach aufhalten lassen werden, ist den meisten Ägyptern klar. Der Koordinator der oppositionellen Rettungsfront, Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei, hat es jetzt trotzdem erneut versucht.

Kurz vor Beginn der Abstimmung rief er Präsident Mursi noch einmal auf, das Referendum abzusagen. Die Islamisten fanden diesen Vorschlag einfach nur absurd. Der Politologe Hassan Nafaa hat dagegen Verständnis für diesen Appell in letzter Minute: "Mohammed ElBaradei hat diesen Vorschlag gemacht, weil er denkt, dass die politische Krise mit diesem Referendum ohnehin nicht zu Ende sein wird."

Wahlen beginnen

Die Wahllokale öffneten am Samstag pünktlich um 7.00 Uhr MEZ. An der Reihe war diesmal die Landbevölkerung. Es wird mit einer deutlichen Zustimmung gerechnet, denn in den Dörfern und Kleinstädten haben die Islamisten um Präsident Mohammed Mursi einen noch stärkeren Rückhalt als in den Großstädten.


Dort hatten vor einer Woche noch nicht bestätigten Ergebnissen zufolge 57 Prozent der Wähler für den Verfassungstext gestimmt. Die Opposition läuft gegen das Regelwerk Sturm. Am Freitag kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern Mursis. Dabei wurden mehr als 30 Menschen verletzt. Die Wahllokale sollen um 19.00 Uhr Ortszeit (18.00 Uhr MEZ) schließen. Bei großem Andrang können sie aber länger geöffnet bleiben.

ElBaradei bezweifelt Legitimität der Verfassung

Der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO (IAEA) in Wien und einer der wichtigsten Oppositionspolitiker in Ägypten, Mohammed ElBaradei, hat die Legitimität der neuen Verfassung seines Landes in Frage gestellt. Man könne keine Verfassung annehmen, der "nur 50 oder 60 Prozent der Bevölkerung zustimmen", sagte der Friedensnobelpreisträger im Ö1-Morgenjournal am Samstag. Nach inoffiziellen Angaben stimmten in der ersten Runde der Volksabstimmung nur rund 56 für den von den Islamisten erarbeiteten Entwurf. Am Samstag findet die zweite Runde statt.

Es gehe dabei um "grundsätzliche Werte", so ElBaradei. Ihm sei es wichtig, Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie der Bildung anzugehen, bekräftigte der Politiker. In der Zeit des Übergangs zur Demokratie hätten das Militär und die Muslimbrüder schon "viel zu viel Zeit verschwendet".

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