Schlaglichter
Sie stehlen
uns das Alter
Leben lässt sich nicht ewig verschieben
Hallo, hören Sie mich?", fragt eine Stimme am Telefon. "Ja, sicher hör ich Sie, taub bin ich noch nicht", antwortet Judith. Sie hat den Lautsprecher eingeschaltet, das Telefon neben den Herd gelegt und geht wie jeden Morgen die paar Schritte vom Kühlschrank zum Esstisch, stellt Butter, Käse und Marmelade vor die beiden Teller, holt zwei Tassen aus einem weißen Schrank mit runden, verzierten Holzgriffen und zwei Messer aus der Bestecklade. "Ich rufe Sie an, weil sie über 65 sind und wir vom Sozialdienst alle Pensionisten fragen, ob auch alles in Ordnung ist", sagt die Stimme. Judith legt drei Scheiben Brot in den Toaster, ist unruhig und nervös, ein Messer fällt zu Boden, sie nimmt die falsche Marmelade aus dem Kühlschrank. Robert steht schweigend in der Tür, bis aus dem Telefon wieder ein "Hallo" kommt und er zu Judith sagt: "Jetzt antworte ihr doch!" "Sprich doch du mit ihr", sagt Judith. "Sag ihr, es geht uns blendend, sag ihr, unsere Enkelin hat heute morgen ihre Feier für die Hochzeit abgesagt, zum dritten Mal, jetzt heiratet sie am Standesamt ohne ihre Großeltern, Freunde und Verwandte. Manche haben wir seit Jahren nicht gesehen!" Dabei beugt sie sich über das Telefon und spricht besonders laut. "Das tut mir aber leid", sagt die Stimme. "Aber sind Sie wenigstens gesund?"