Zug oder Flug?

Wer als PolitikerIn auf sich hält, reist zur Weltklimakonferenz in Glasgow per Zug an. Doch was muss passieren, damit der Zug für weitere Strecken konkurrenzfähig wird?

von Zug © Bild: iStockphoto/den-belitsky

Das Bild eines Anzugträgers, der einen Rollkoffer durch ein Flughafengebäude zieht, gehört zu den Symbolen politischer Effizienz. Immer auf Achse, will das Sujet sagen, immer im Einsatz. Schnell, modern und ein bisschen mondän.

In letzter Zeit tauchen andere Fotos in den sozialen Medien auf. Sie erinnern mehr an Urlaub und verschwitzte Interrail- Odysseen - wer sich erinnert -, aber sie sollen die Zukunft repräsentieren: Politiker, die mit der Bahn zum Klimagipfel in Glasgow reisen und ihr kleines Abenteuer für die Um-und Nachwelt dokumentieren. Wiens Klimastadtrat Jürgen Czernohorszky beim Betreten eines Zuges, SPÖ-Nationalratsabgeordnete Julia Herr posierend vor einem Nightjet-Wagon. Und natürlich Umweltministerin Leonore Gewessler, die am Sonntag die Reise nach Schottland antrat. Die Fotos, die ihr Social- Media-Team postete, sollen eine alternative Geschichte effizienten Reisens erzählen: die Ministerin im Zugabteil an ihrem Laptop arbeitend, die Ministerin, den Zwischenstopp in Brüssel auf Terminen nutzend. Über eine Tonne CO2-Äquivalent, steht unter einem Foto ihres Teams, werde man dank der klimafreundlichen Anreise mit dem Zug pro Person einsparen. Klingt super, dauert aber auch zwei Tage.

Eine Zeitfrage

Die neue politische Lust an der Bahnfahrt -und der damit verbundenen Selbstdarstellung - wirft eine Frage auf, die in den ökologisch bewegten neuen Zeiten schon länger schwelt: Zug oder Flug? Können zumindest Kurzstreckenflüge konsequent durch klimafreundlichere Bahnreisen ersetzt werden?

Ein weiterer Politiker, der die lange, umweltschonende Anreise nach Glasgow wählte, ist der Neos-Nationalratsabgeordnete Yannick Shetty. Von Wien mit dem Nachtzug nach Amsterdam, nach einem mehrstündigen Aufenthalt dort mit dem Eurostar nach London, am nächsten Morgen weiter nach Schottland. Netto-Reisezeit: 18,5 Stunden. Kosten: 500 Euro. Den Rückflug trat Shetty aus Zeitgründen mit dem Flugzeug an. Für die Strecke Edinburgh-Wien gibt es Angebote ab 19 Euro.

Zugverbindungen in weniger als sechs Stunden:

Wien–München
Salzburg–Frankfurt
Graz–München
Wien–Innsbruck
Wien–Prag
Linz–Frankfurt

"Ich wollte aufzeigen, wie absurd lang und wie teuer eine Zugreise ist", sagt er. "Im europäischen Schienenverkehr muss sich deutlich etwas zu tun. Vor allem im Kontrast zum Fliegen." Shetty ist für einen Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes, wie China es vorgemacht habe. Denn Nachtzüge, wie von den ÖBB derzeit forciert, seien für Dienstreisende nicht interessant. "Das kann für Urlaubende eine Alternative sein, aber bei Dienstreisenden wird das nie rentabel sein."

Nachtzug in weniger als zwölf Stunden:

Wien–Frankfurt
Wien–Berlin
Wien–Düsseldorf
Wien–Stuttgart
Wien–München
Wien–Köln
Wien–Hannover
Graz–München
Wien–Innsbruck
Wien–Bologna
Wien–Venedig
Linz–Frankfurt

Näher, als man glaubt

Eine aktuelle Studie von Greenpeace zeigt auf, dass 51 Prozent der 150 meistgenutzten Flugstrecken innerhalb der EU mit dem Zug in weniger als sechs Stunden zurückgelegt werden können. Aus österreichischer Sicht folgende Routen: Wien-München, Salzburg-Frankfurt, Graz-München, Wien-Innsbruck, Wien-Prag und Linz-Frankfurt. Dazu kommen zwölf Nachtzugverbindungen unter zwölf Stunden.

Das Potenzial, kurze Flug-in Zugreisen umwandeln zu können, belegen auch Zahlen des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ). Demnach traten 32 Prozent der Passagiere, die im Jahr 2019 von Wien-Schwechat abflogen, eine Flugreise an ein weniger als 800 Kilometer entferntes Ziel an. Insgesamt machten rund fünf Millionen Fluggäste einen Kurzstreckenflug. 638.000 Passagiere flogen sogar weniger als 400 Kilometer weit. Weitere 1,5 Millionen Passagiere reisten an ein Ziel, das nur zwischen 400 und 600 Kilometer von Wien entfernt ist.

Die fünf meistgebuchten Destinationen ab Wien sind: Frankfurt (621 Kilometer), Berlin (547 km), Paris (1.048 km), Amsterdam (960 km) und Zürich (603 km). Wobei diese oft ja auch nur ein Umsteigestopp für eine längere Reise sind. In alle genannten Städte fährt auch ein Nachtzug (jener nach Paris wieder ab 13. Dezember).

Während das Fliegen für den schnellen Businesstrip (noch) unverzichtbar erscheint, kann die Bahn bei Urlaubsreisen mitunter mithalten. Bei einer weihnachtlichen Reise nach Venedig, Berlin oder Innsbruck steigt das Bahnfahren gut aus - wenn man bereit ist, tagsüber stundenlang im Zug zu sitzen und rechtzeitig den günstigen Sparschiene-Tarif ergattert. Die klassische Kurztrip-Destination Barcelona ist dagegen nur schwer per Bahn zu erreichen. "Es wird weiterhin Strecken geben, wo man auf den Flugverkehr angewiesen ist", räumt auch Neos-Politiker Yannick Shetty ein. Die Reise von Wien nach Glasgow, knapp nicht Mittelstrecke, gehöre möglicherweise dazu.

Steuerfrei fliegen

Der zweite Grund, warum viele lieber ins Flugzeug zu steigen, sind die niedrigen Ticketpreise. Lockangebote, um einige wenige Euro schnell in eine andere Stadt zum Shoppen und Kaffeetrinken zu fliegen, gibt es zuhauf. Ein Flugticket zum Preis eines Taschenbuchs oder eines T-Shirts. Möglich sind diese Billigtarife unter anderem deshalb, weil der Flugverkehr in der EU deutlich niedriger besteuert wird als etwa in den USA oder Teilen Asiens.

Eine damals nicht veröffentlichte EU-Studie aus dem Jahr 2019 errechnet, dass die Einführung einer EU-weiten Kerosinsteuer von 33 Cent pro Liter 27 Milliarden Euro pro Jahr bringen würde. Österreichs Anteil an dieser Summe wird mit 300 Millionen Euro berechnet. Selbst das wäre im Vergleich zu den Mineralölsteuern auf Benzin und Diesel noch eine Bevorzugung des Flugverkehrs. In Österreich sind derzeit pro Liter Benzin 48,2 Cent, bei Diesel 39,7 Cent fällig.

Neben dem Kerosin genießt der Flugverkehr in der Mehrheit der EU-Staaten noch ein weiteres Steuerprivileg: Grenzüberschreitende Flüge sind von der Umsatzsteuer befreit. Ein EU-weiter Steuersatz von 19 Prozent brächte Einnahmen von 40 Milliarden Euro pro Jahr. Laut EU-Studie würde der Flugverkehr durch eine solche Besteuerung um elf Prozent zurückgehen (in Österreich um acht Prozent), und es gäbe keine Auswirkungen auf die damit verbundenen Jobs.

Dass teurere Flugtickets Menschen mit geringerem Einkommen von weiteren Reisen ausschließen würde, stimme so nicht, meint VCÖ-Experte Christian Gratzer. Laut einer market-Umfrage fliegen 29 Prozent der über 16-Jährigen in diesem Land nie und 52 Prozent seltener als einmal pro Jahr. Nur 14 Prozent fliegen mehrmals pro Jahr, drei Prozent mehrmals pro Monat und nur ein Prozent mehrmals pro Woche.

"Für Umweltschäden bezahlen"

Der Flugverkehr solle die Umweltschäden, die er verursacht, auch bezahlen müssen, fordert Gratzer. Und da das überwiegende Passagieraufkommen offenbar auf Dienstreisen entfalle, sollten sich die Unternehmen, die ihre Mitarbeiter losschicken, das auch leisten können. "Oder der höhere Preis ist ein Anreiz, mehr Videokonferenzen zu machen", sagt er.

Aber natürlich: Es muss auch das Angebot passen. "Die Infrastruktur bestimmt das Mobilitätsverhalten." Alle EU-Hauptstädte und größere Städte in den Mitgliedsstaaten sollten per Bahn bequem erreichbar sein. "Das hat ja auch noch den Vorteil, dass man von Zentrum zu Zentrum unterwegs sind, während Flughäfen meist außerhalb liegen und eine längere An-und Abreise sowie die Tatsache, dass man zwei, drei Stunden früher am Flughafen sein muss, einzurechnen sind."

Mit dem Zug nach nirgendwo

Aber das Angebot, nun ja, es lässt manchmal zu wünschen übrig, vor allem, wenn man über Länder reisen muss, deren Bahnnetz miserabel ist. Andrea B. etwa berichtet von einer letztendlich gescheiterten Reise von Wien nach London.

Geplant war die Route Wien-Frankfurt-Brüssel-London mit jeweils zwei Stunden Umsteigezeit. Abfahrt in Wien war um 6.30 Uhr, um 23 Uhr war die Ankunft in London vorgesehen. Freilich blieb der Zug auf der Strecke nach Frankfurt 90 Minuten wegen eines Buschbrandes stehen, jener nach Brüssel fuhr plötzlich nicht mehr ab Frankfurt Hauptbahnhof, sondern ab Flughafen, weil er bereits (aus Brüssel kommend) so viel Verspätung hatte, dass man ihn früher umdrehen ließ.

Frau B. verpasste ihn trotz einer Hetzjagd mit der S-Bahn zum Flughafen um vier Minuten. Der Euro-Star nach London war damit weg, die erreichbaren Züge am nächsten Tag ausgebucht und ein Hotelzimmer, es war ein Osterwochenende, auch nicht zu bekommen. B. trat um 0.30 Uhr frustriert den Rückweg nach Wien an. "Immerhin", sagt sie, "haben mir ÖBB und Deutsche Bahn alle Kosten bis hin zu Hotels und Theaterkarten in London nach einem Jahr des Herumstreitens ersetzt."

Fliegen - aber umweltschonend

Fairerweise: Der Anteil des Flugverkehrs an den weltweiten CO2-Emissionen aus fossiler Energie beträgt ca. 3,5 Prozent, auf den Straßen werden 18 Prozent der CO2-Emissionen in die Umwelt geblasen. Steuerlich besserstellen muss man die Flugtickets aber dennoch nicht.

Der Umweltökonom Stefan Schleicher sagt: "Bei den kontraproduktiven Quersubventionen darf die gegenwärtige Praxis nicht fortgesetzt werden." Eine Kerosinsteuer etwa in der Höhe der österreichischen Mineralölsteuersätze entspräche einem CO2-Preis von 2oo Euro pro Tonne und sei durchaus angemessen. Umweltschäden einzupreisen und die Steuer höher anzusetzen, sei nicht so einfach zu berechnen. "Jedenfalls sollte man die Einnahmen aus diesen Steuern zweckgebunden für Schieneninfrastruktur oder neue Flugzeugantriebe verwenden."

Ihm gehe es nicht darum, Flugreisende zu "strafen", meint Schleicher, sondern um den konkurrenzfähigen Ausbau des Schienenangebots. Hier müssten Versäumnisse der letzten Jahre aufgeholt werden. "In der Monarchie war man schneller von Wien in Opatja als heute", sagt er, und: "Ich wünsche mir für Mittel-und Osteuropa ähnlich gute Hochgeschwindigkeitsverbindungen, wie es sie etwa in Frankreich gibt." Europa gebe seine Eisenbahnkompetenz auf und lasse sie nach Asien abwandern, was wiederum wirtschaftliche Abhängigkeiten schafft.

1,5 Millionen Tonnen CO2 könnten laut Greenpeace im Jahr gespart werden, wenn alle Kurzstreckenflüge aus und nach Österreich durch Zugverbindungen ersetzt werden

3,5 Prozent trägt der globale Luftverkehr laut einer neuen Studie zur Klimaerwärmung bei. Zwischen 1940 und 2018 wurden 32,6 Mrd. Tonnen emittiert

Auch innerhalb Österreichs gibt es bei der Bahninfrastruktur einiges zu tun. Rund um die 1990er-Jahre wurden unter dem gegenseitigen Schulterklopfen der Regionalpolitik "unrentable" Nebenbahnen stillgelegt. Heute könnte man die für einen klimagerechten Verkehr gut brauchen. Und, wenn die Trassen noch verfügbar sind, auch wieder herstellen.

Aber auch hier gibt es -bisher noch zu wenig bekannte - Alternativen. Schleicher verweist auf "Light Trains", ein Mittelding zwischen Straßenbahn und Zug in Leichtbauweise, bei dem die Schienen auch an schon vorhandenen Straßen verlegt werden können. Das spart den Bau neuer Trassen und langwierige Genehmigungsverfahren. "Man könnte etwa die Mittelstreifen von Autobahnen nützen."

"Ich gehöre nicht zu jenen, die sagen, man müsse Flüge innerhalb der EU streichen", sagt Schleicher, "Fliegen wird weiter ein fixer Bestandteil unseres Modal Splits (Zusammensetzung unseres Verkehrsverhaltens, Anm.) sein." Für Kurzstrecken werde es relativ bald Ersatztreibstoffe statt des umweltschädlichen Kerosins geben - vom E-Fuel bis zum vollelektrischen Antrieb, meint der Experte. Sowohl für den Ausbau der Schiene als auch für den Flugverkehr gelte: "Es gibt in dieser Debatte Nachdenkdefizite und Tabus."

CO2-neutrales Kerosin

Hoffnung macht etwa ein Projekt der ETH Zürich, über das dieser Tage inm Fachmagazin "Nature" berichtet wurde: Die Schweizer Wissenschaftler können mithilfe einer Mini-Solarraffinerie synthetische flüssige Treibstoffe herstellen, die bei der Verbrennung nur so viel CO2 freisetzen, wie zuvor der Luft entnommen wurde - und die also CO2-neutral sind. CO2 und Wasser werden direkt aus der Umgebungsluft abgeschieden und mit Solarenergie aufgespalten. Das Produkt ist Syngas, eine Mischung aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, die anschließend zu Kerosin verarbeitet werden kann.

Die Technik sei im Prinzip reif für den Transfer in die Industrie, brauche aber nun die Unterstützung der Politik, erklärt der Forscher Johan Lilliestam: "Die Technologie muss schrittweise in den Markt eingeführt werden, damit sich diese Technologie von den Marktkräften getrieben verbessern kann." Die Kosten seien im Moment noch relativ hoch. Lilliestam schlägt daher eine anfangs niedrige Quote vor - 0,1 Prozent des Kerosins, das in der EU verbraucht wird -, damit sich die Technologie entwickelt und allmählich rentabel wird.

Bis CO2-neutrale Flugreisen möglich oder politische Weichen zur Kerosinbesteuerung gestellt sind, wird es dauern. Bis dahin bleibt es auch eine persönliche Entscheidung: Zug oder Flug? Eine dampft unbeirrt (und publicityträchtig) voran. Klimaministerin Gewessler reist auch von Glasgow zurück mit dem Zug.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin (Nr. 45/2021).