Ein Tag im Juli, Zeitenwende

Die Tragödie Kellermayr zeigt: Die traumatischen Jahre der Coronapandemie müssten in einer gemeinsamen Anstrengung aufgearbeitet werden.

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Der erste Gedanke angesichts der Nachricht vom Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr: eine Zeitenwende. Ein Ereignis für die Geschichtsbücher. Eine junge Frau, von einem gnaden-und skrupellosen rechtsextremen Impfgegner-Internetmob zu Tode gehetzt, und keiner war da, um sie zu schützen, im Gegenteil. Überall lange Gesichter jetzt, im Nachhinein, und beschwichtigende Worte. Hätte sie sich doch mit ihren öffentlichen Äußerungen zurückgehalten. Was glaubt sie eigentlich? Die alten Rollenbilder wie ein unverrückbarer Betonsarg über jedem Schritt, den eine (junge) Frau in der Öffentlichkeit tut, über jedem Wort, das sie sagt. Brav sein, Puppi, und nicht aufmucken. Und die Rechten und ihre Hassnachrichten: quasi unmöglich, diese Leute aufzuspüren. Auch unnötig. Schön ist das nicht, so ein Droh-E-Mail, aber tut ja eigentlich auch keinem weh, nicht so richtig zumindest. Nicht hysterisch werden. Oder halt nichts sagen, was irgendwen provozieren könnte, auch wenn es die Wahrheit ist. Was kommt da noch? Wo führt das hin? Wie werden wir in Jahren und Jahrzehnten auf diese seltsame Zeit blicken, diesen Sommer, in dem Kirschen genauso rot leuchteten wie immer, und der doch verdunkelt war vom Schatten des Krieges, der Gaskrise, der Inflation, vom Klimawandel sowieso; auf einen Tag Ende Juli, der so drastisch und schmerzhaft aufzeigte, wie brüchig das Fundament unserer Gesellschaft geworden ist? Selbstverständlichkeiten dahingeschmolzen. Kein Glaube mehr an die Zukunft, kein Vertrauen in die Politik, und die Guten müssen sich angstzitternd verstecken, während die Bösen unbehelligt Drohbriefe schreiben dürfen. Oder gibt es überhaupt kein Gut und Böse mehr? Dann wäre alles noch viel schlimmer als gedacht. Widerrede gegen diese dunklen Fantasien ausdrücklich erbeten.

»Die tiefen Gräben haben sich nicht von selbst aufgefüllt, wie viele behaupten«

Fest steht jedenfalls: Die tiefen gesellschaftlichen Gräben, die während der Pandemie offenbar wurden, haben sich während dieses weitgehend coronamaßnahmenlosen Sommers nicht von selbst wieder aufgefüllt, wie viele Politiker jetzt zweckoptimistisch behaupten. Natürlich, sie haben anderes zu tun. Die Bundesregierung hängt, guten Willens, aber vom permanenten Krisenmodus überfordert, müde in den Seilen und wird noch dazu aus den eigenen Reihen torpediert. Teile der Opposition blasen, frei von lästigen Gefühlen gemeinsamer Verantwortung für dieses Land, mit halb durchdachten Gegenvorschlägen zum Dauerangriff.

Was nicht stattfindet und nie stattfand, ist eine Aufarbeitung der traumatischen Ereignisse der vergangenen Jahre. Eine gemeinsame gesellschaftliche Reflexion, ein Fragenstellen und Wieder-aufeinander- Zugehen. Eine Art U-Ausschuss für Fragen des Zusammenlebens. Wer hat welchen Fehler gemacht, wer wann, wo über welche Stränge geschlagen? Welche Aktionen waren, rückblickend betrachtet, unnötig und haben zu viel Vertrauen gekostet? Wo stehen wir? Wer sind wir? Was ist dieses "wir" überhaupt noch in diesem Sommer der Krisen?

Doch, ja, die Tragödie Kellermayr ist eine Zeitenwende. Wohin die Zeit sich wendet, das wird auch von den Antworten auf diese Fragen abhängen. Und davon, ob sie überhaupt gestellt werden.

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