"Müssen wir aus unserer Wohnung raus?"

Wegen Corona drohen Delogierungen im großen Stil

Seit Corona unser Leben beherrscht, liegt zwischen bescheidenem Glück und bitterer Bedrängnis oft nur noch ein schmaler Grat: Plötzlich können ganz normale Menschen ihre Mietschulden nicht mehr begleichen. Wie geht es Mitbürgern, die kurz vor der Delogierung stehen?

von
THEMEN:
Wohnungsnot © Bild: Ricardo Herrgott/News

Die neue Armut, die Corona-Armut, sie kommt oft schleichend. "Eine Zeit lang kann man sich noch über die Runden turnen, indem man die eine Rechnung bezahlt und die andere liegen lässt -und im Monat darauf macht man es dann umgekehrt", erzählt Elke Kahr von den Geschichten, die sie tagtäglich zu hören bekommt. Von den Geschichten, die entweder mit Jobverlust durch Corona beginnen oder mit empfindlichen finanziellen Einbußen durch Kurzarbeit. Und die mit dem Verlust der Wohnung enden, wenn die laufenden Mieten nicht mehr beglichen oder ältere Mietrückstände nicht mehr abgebaut werden können.

Wohnungsnot
© Ricardo Herrgott/News Elke Kahr, Grazer Stadträtin und Mietexpertin, befürchtet einen sprunghaften Anstieg an Corona-Delogierungen

Kahr, hauptberuflich Grazer Verkehrsstadträtin für die KPÖ, betreibt in der steirischen Landeshauptstadt eine Notrufzentrale für Mieter. "Die Zahl der Räumungsklagen ist sprunghaft angestiegen", sagt sie. Der Hintergrund: Laut Covid-Gesetz konnten die Mieten für den ersten Lockdown bei finanzieller Schieflage später nachgezahlt werden. Doch da diese Frist mit April 2021 auslief, müssten die Ausstände nun mit vierprozentiger Verzinsung beglichen werden. Müssten - doch die wenigsten können das. Obdachlosigkeit drohe, auf kurz oder lang zum Massenphänomen zu werden, befürchtet Kahr. Wie Teile der SPÖ, die Arbeiterkammer und zahlreiche NGOs fordert auch sie einen staatlichen Hilfsfonds für finanzschwache Mieterinnen und Mieter. Mit mindestens 100 Millionen Euro solle der dotiert sein, denn das derzeitige Mietrückstandsvolumen liegt laut Berechnungen der Arbeiterkammer bundesweit bei 83 Millionen Euro. Tendenz stark steigend. Hier drei Einzelgeschichten, stellvertretend für Österreichs Covid-Wohnkrise.

Die Geschichte eines kippenden Steinchens

SELMA, 44 UND FLORAN, 8

Wohnungsnot
© Ricardo Herrgott/News Selma mit ihrem Sohn Floran in ihrer kleinen Wohnung: Wenn nicht rasch frisches Geld reinkommt, muss sie mit 44 zurück zu ihren Eltern ziehen

In ihrem Job als Sozialpädagogin ist die 44-jährige Selma aus Graz darauf spezialisiert, Langzeitarbeitslose zu unterstützen. Menschen, die für Monate, nicht selten für Jahre außerhalb der Arbeitswelt stehen, ein Stück ihres Selbstwerts zurückzugeben -das ist, womit Selma ihr Geld verdient. Zu wenig Geld für schwere Zeiten. Zu wenig Selbstwert für Selma. "Wenn sich nicht rasch was zum Besseren ändert, müssen wir aus unserer Wohnung raus und zu meinen Eltern ziehen", erzählt sie.

Wir, das sind sie und ihr achtjähriger Sohn Floran. Von dessen Vater ist Selma geschieden, seit ein paar Jahren alleinerziehende Mutter. Und immer, wenn Politikerinnen und Politiker pathetisch fordern, wie rasch und wie unbürokratisch man gerade dieser Gesellschaftsgruppe gerade in diesen Zeiten helfen müsse, dann weiß Selma nicht, ob sie lachen soll oder doch eher weinen. Passiert, sagt sie, sei schon beides. "Dann habe ich ein Gefühl der Ohnmacht, und das macht mich richtig wütend."

Nein, nichts an der Lage, in der sie sich derzeit befindet, habe sie selbst verschuldet. Und doch weiß sie nicht, wie sie am nächsten Ersten noch einmal das Geld für die Wohnungsmiete -die 650 Euro inklusive Strom und Heizung für 63 Quadratmeter in Bahnhofsnähe -aufbringen soll.

Keine Klage, kein Geld

Stets war ihr Leben knapp kalkuliert, knapp, aber immer gerade noch machbar. Doch als dann mit Beginn des ersten Lockdowns auch ein erstes finanzielles Dominosteinchen kippte, fiel in Folge gleich eine ganze Reihe: Mit einem Mal, so begann es, konnte Florans Vater seine vereinbarten Alimente in der Höhe von monatlich 300 Euro nicht mehr überweisen. Und Selma wollte und will das Geld nicht gerichtlich einfordern. "Weil ich ja weiß, dass er von Tag eins an in Kurzarbeit war und es einfach nicht hat." Doch solange sie die ausstehende Summe nicht einklagt, will sie auch kein Hilfsfonds unterstützen.

Doch dann kam da auch noch das Homeschooling auf Selma und Floran zu, und sehr rasch war ihr klar, dass sie ihren Sohn vormittags nicht so einfach alleine lassen konnte. "Erstens brauchte er jemanden, der ihn bei seinen Arbeitsaufträgen unterstützte, zweitens drohte er mir völlig zu vereinsamen." Und so nahm Selma all ihren Resturlaub in einem Stück, um Floran zu betreuen. Als ihre freien Tage dann zur Gänze verbraucht waren, musste sie ihre Arbeitszeit notgedrungen von 30 auf 20 Wochenstunden herunterschrauben. "Das waren dann die zweiten 300 Euro, die mir Monat für Monat abgingen, zusammen mit den fehlenden Alimenten fast so viel wie die gesamte Wohnungsmiete."

Zudem litt Floran massiv unter der lockdownbedingten Bewegungsarmut, und so muss Selma mit ihm wöchentlich zu einer speziell geschulten Pädagogin, die nicht auf Kasse läuft und pro Stunde bis zu 90 Euro kostet. "Das Einzige, wo ich noch sparen könnte, ist also die Miete", sagt Selma. "Doch verliere ich die Wohnung, so verliere ich mein letztes Stückchen Selbstwert." Selbstwert, das ist das, was eigentlich sie ihren Klienten zusprechen sollte.

Die Geschichte einer verzagenden Liebe

ISABEL, 49, UND DANIEL, 46

Wohnungsnot
© Ricardo Herrgott/News Isabel und Daniel vor dem Block, in dem sie -noch -wohnen: Erst war er arbeitslos, jetzt ist es sie. Sie wollen ihre Mietschuld begleichen, doch die Raten sind ihnen zu hoch

Wenn Isabel wieder einmal die ganze Nacht wach lag und weinte und in der Früh nicht die Kraft hat, um aufzustehen, dann nimmt sie Daniel in die Arme, hält sie für ein, zwei Minuten und verspricht ihr: "Irgendwie schaffen wir das." Wie, das weiß er noch nicht, aber glauben tut er es trotzdem. "Weil ich es glauben muss."

2019 hatten die Polin und der Deutsche einander über ein Partnerschaftsportal kennengelernt. Rasch wurde aus Sympathie Liebe, und so zog er schließlich vor gut einem Jahr bei ihr in Graz ein, wo sie bereits seit acht Jahren lebt: auf 77 Quadratmetern für 766 Euro kalt, in einem mintgrünen Block, jenseits von Luxus, aber hell und gemütlich. "Wenn mir vor einem Jahr wer gesagt hätte, dass wir uns das irgendwann nicht mehr leisten können, hätte ich ihn für verrückt erklärt", sagt Daniel. Doch vor ein paar Wochen flatterte dem Paar die Räumungsklage ins Haus!

Zwischen bescheidenem Glück und bitterer Bedrängnis, das mussten die beiden lernen, liegt in Zeiten wie diesen oft nur ein sehr schmaler Grat. Und die Eigendynamik einer Pandemie: Zunächst schlitterte Daniel, der gelernte Maschinenbauer, in die Arbeitslosigkeit. Seinen gut dotierten Job in Dresden hatte er noch gutgläubig gekündigt, weil er in Graz schon etwas Sicheres in Aussicht hatte. Aber sicher? Was war nach dem ersten Lockdown schon sicher? Plötzlich wollte keiner mehr was von Neuanstellungen wissen, und so saß Daniel plötzlich ohne Beschäftigung und ohne staatliche Unterstützung da. Die beiden lebten fortan von den 1.120 Euro, die Isabelle verdiente. Doch obwohl sie bereits ihr Auto verkauft hatte und den Kühlschrank nur noch mit Sonderangeboten nachrüstete, reichte das nicht für Überleben und Miete.

Und so blieb man den Zins von März bis August des Vorjahres schuldig. 6.800 Euro an Ausständen häuften sich an, doch während sich die Vermieter zunächst noch kulant und geduldig gaben, wurden plötzlich -parallel zur laufenden Miete -Monatsraten von 1.140 Euro zur Schuldentilgung festgelegt. "Wir wollten unsere Schulden ja zurückzahlen, aber die Raten waren einfach zu hoch", sagt Isabel. Doch da war nichts mehr zu machen.

Zwei heftige Diagnosen

Im Sommer 2020 fand Daniel endlich einen Job als Messtechniker, und so beglich man fortan wieder die laufende Miete. Doch just als sich die Finanzen der beiden wieder auf ruhigere Fahrwasser zubewegten, wurde Isabel überraschend gekündigt. Ihr Chef sprach von "betriebsbedingtem Personalabbau":"Corona, die entgangenen Aufträge, Sie müssen verstehen "

Und Isabel verstand. Verstand auch, was da nun an neuen, alten Problemen auf sie und ihren Daniel zukommen würde. Und als sie dann auch noch mit der Diagnose Blutarmut konfrontiert wurde, kippte sie auch psychisch. "Sie leiden unter Depressionen", war der Therapeutin, die Isabel auf Anraten der Ärzte konsultierte, rasch klar.

Dank Intervention von Stadträtin Elke Kahr konnte die Höhe der Raten zwar vorerst reduziert werden. Ein erster Schritt, aber noch keine endgültige Lösung. "Um alles zu begleichen und dauerhaft in unserer Wohnung bleiben zu können, bräuchten wir doch bloß eine mittelfristige Überbrückung", sagt Daniel. "Verlangen wir da denn zu viel vom Wohlfahrtsstaat?"

Die Geschichte einer schwierigen Geburt

LYDIA, 19, UND JÜRGEN, 20

Wohnungsnot
© Ricardo Herrgott/News Lydia und Jürgen vor dem schneeweißen Kinderbettchen: Ob sie noch ihre Wohnung haben, wenn ihr Baby zur Welt kommt -sie wissen es nicht

Das schneeweiße Babybettchen haben Lydia und Jürgen bereits in der kleinen Wohnküche aufgestellt. Es wirkt wie ein trotziges Symbol der Hoffnung und der Vorfreude: Ende Mai wird ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt kommen. Es wird ein Söhnchen. Doch was sind das für Lebensumstände, in die der Kleine hineingeboren wird? Die beiden angehenden Eltern wissen es nicht. "Für diesen Monat konnten wir die Miete gerade noch zusammenkratzen", sagt Jürgen. "Aber ganz ehrlich: Wie das im kommenden Monat ausschaut - das können wir jetzt noch nicht sagen."

Gut, das Geld war immer schon knapp. Seit dem 17. April des Vorjahres, dem Tag, an dem sie sich von den Eltern lossagten, um künftig als Paar durchs Leben zu gehen. Ihre erste gemeinsame Bleibe, erzählt Lydia, sei eine "echte Bruchbude" gewesen: 36 Quadratmeter am Grazer Stadtrand, Schimmelbefall inklusive. Und dann auch noch ein Rohrbruch. Lydia und Jürgen wollten nur noch raus. Und so kratzten sie all ihr Erspartes zusammen, um die beiden Monatsmieten aufzubringen, die der Besitzer für die vorzeitige Vertragsauflösung verlangte. Die 2.000 Euro Kaution für die neue Wohnung streckte Jürgens Vater vor. Das war sein Notgroschen für Unvorhersehbares. "Wir waren trotz allem voll Zuversicht und Optimismus", erzählt Jürgen. "Doch jetzt verspüren wir zum ersten Mal echten psychischen Druck und Existenzangst."

Da Jürgen seine Lehre als Stahlbautechniker noch nicht abgeschlossen hatte, aber Lydia bereits schwanger war, bewarb er sich als Berufssoldat. Die umfangreichen Tests hatte er allesamt erfolgreich absolviert, das Monatsgehalt von 1.600 Euro schien greifbar nahe. Doch dann der Rückschlag: "Sie wollten mich relativ rasch ins Ausland schicken, womöglich in den Kosovo." An sich kein Problem - würde er dadurch nicht die Geburt seines Söhnchens versäumen. "Sie konnten mir nicht garantieren, dass ich fristgerecht zurückgebracht werde." Also sagte Jürgen schweren Herzens ab.

Und so hat das junge Paar nun zwar eine 50-Quadratmeter-Wohnung in einem Neubau für 650 Euro pro Monat ohne Strom - aber das ist ein Luxus auf sehr, sehr absehbare Zeit. Denn da zwischen den Lockdowns keinerlei Jobs für Jürgen frei wurden, strampelte er jetzt fulltime für einen Essensauslieferer für 800 Euro pro Monat. "Ich überlege, statt des E-Bikes auf mein eigenes Rad umzusatteln, denn da bekomme ich 24 Cent Kilometergeld zusätzlich."

"Denn", sagt er, "wenn wir die Mai-Miete irgendwie zusammenbekommen wollen, zählt jeder Cent." Und wenn nicht ...

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 17/2021.