Warum Normalität Berge versetzt

Meine Erstbegegnung mit Extrembergsteiger Reinhold Messner liegt über ein Jahrzehnt zurück. Und ist nicht als steil, sondern als umwerfend normal zu bezeichnen. Warum das so ist, erfahren Sie im folgenden Text.

von LIEBES LEBEN - Warum Normalität Berge versetzt © Bild: Nathan Murrell

Mein Kontakt mit Reinhold Messner fing im Internet mit einer Terminanfrage an, die überraschend positiv beantwortet wurde, da er sowieso in der Gegend war. Natürlich war ich gespannt, was er mir über sein Leben zu sagen hatte. Wie es sich anfühlen würde, wenn man ihm gegenüber saß. Die Leute im Landgasthof, wo der Termin stattfand, bestaunten ihn eher, als dass sie sich in seine Nähe wagten. Woran das lag?

Nicht an höflicher Zurückhaltung gegenüber lebenden Legenden. Vielmehr an dem plötzlich aufsteigenden Gefühl, das wie Nebel durchs Bewusstsein zog: "Das kann doch nicht sein, der Messner leibhaftig hier bei uns!" Solch einen Gipfel des empirisch Erfahrbaren hatte wohl niemand für sich je in Aussicht gesetzt! Er wartete schon fast eine halbe Stunde, dass endlich jemand kam und sich zu ihm setzte. Zumindest erweckte das Bild des allein auf der Terrasse sitzenden Hochalpinisten diesen Eindruck. Das war erstaunlich! Wie das Phänomen der Distanz aller Umstehenden, als ich Messner, der darüber fast dankbar und erleichtert erschien, durch mein Dasein in die Wirklichkeit zurückholte: aus der Ikonisierung des unnahbaren Helden befreite, des nicht vom Olymp, aber vom Mount Everest Hinabgestiegenen in das irdische Sein des vormaligen Lehrers aus Südtirol. Das kollektive Verhalten ähnelte dem Respekt vor einem schier unbezwingbar hohen Berg: Alle kennen Messner, aber niemand wagt sich an ihn heran. Das psychologische Phänomen der Idealisierung setzt bei uns spätestens mit der Pubertät ein, wenn wir Identifikationsfiguren in Form von Postern auf Wände pinnen und uns von ihnen nicht beobachtet, sondern beschützt und aufgewertet fühlen. Auch Messner ist durch seinen historischen Ruhm so ein "Guru" und zugleich "Yeti für alle". An den alle glauben, aber es nicht für möglich halten, wenn er ihnen eines Tages in Fleisch und Blut erscheint. So geschehen in der Region Ramsau am Dachstein, als er mir ganz trocken erklärte, dass es Wahnsinn sei, solch hohe Berge zu erklimmen. Und dann sagte er etwas, das ich nie vergessen werde, er, den man fast nur mit dem Bergsteigen, dem Hochalpinismus verbindet, sprach: "Ich fühle mich der Kunst verwandter als dem Sport." Dann geschah etwas, das tatsächlich Berge versetzte. Ich stellte nicht nur Fragen, ich erzählte ihm auch ganz normal von mir, als wäre er nicht Reinhold Messner. Nicht normal? Oder doch?

Wie zwei Stunden mit Messner sich anfühlen? Erstaunlich, ja erschreckend normal. Je länger wir uns unterhielten, desto mehr Menschen im Landgasthof kamen näher, immer näher an die Szene heran. Sie sahen, da sitzt eine Normalsterbliche mit der Ikone des Alpinismus, und nichts Absonderliches geschieht. Meine Gegenwart hatte Messner nahbar und den Menschen im Gasthaus Mut gemacht, ihn auch wirklich werden zu lassen. Manche wagten sich vor und fragten, ob sie fotografieren dürften, und fotografierten ihn nicht wie eine Person, sondern wie eine Sehenswürdigkeit. Und ich? Fand umwerfend, wie selbstverständlich diese Begegnung war, ich hätte noch stundenlang mit ihm weiter reden, scherzen und philosophieren können. Und hatte dabei fast vergessen, wie steil das war, sich Normalität zu erlauben, statt in Groupie-Ekstase zu verfallen. Wie schön normal das ist, Menschen Menschen sein zu lassen und nicht zu überirdischen Attraktionen zu machen.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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