Florian Aigner: "Eigene Fakten
erfinden löst keine Probleme"

Im Buch "Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl" erklärt Florian Aigner, warum die Wissenschaft alternativen Fakten überlegen ist. Im Interview sagt er: Experten können der Politik die Entscheidungen nicht abnehmen.

von Wissenschaft - Florian Aigner: "Eigene Fakten
erfinden löst keine Probleme" © Bild: Ricardo Herrgott
Florian Aigner, 40. Der Oberösterreicher studierte in Wien Technische Physik und promovierte über theoretische Quantenphysik. In seinen Büchern und Kolumnen versucht er, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich zu machen und parawissenschaftliche bzw. esoterische Behauptungen zu widerlegen.

Ihr neues Buch "Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl" ist eine Liebeserklärung an die Naturwissenschaft. Trotzdem begegnen uns im Buch ziemlich viele Einhörner, die in Badezimmern wohnen. Wie kommt des zu Ihrem Faible für diese Viecher?
Wenn man darüber reden will, was Wissenschaft ist, muss man darüber reden, was keine Wissenschaft ist. Man muss die Grenze ausloten zwischen wissenschaftlichen Fakten und dem, was frei erfunden ist. Dass es keine Einhörner gibt, darauf haben wir uns irgendwie geeinigt. Daher sind sie in meinem Buch ein Bild für das Irrationale.


Wenn Sie mir nun ernsthaft von fliegenden Einhörnern erzählt hätten, wäre das zwar ein ganz lustiges Interview, hätte aber nichts mit Wissenschaft zu tun?
Man könnte auch Einhörner wissenschaftlich untersuchen, aber da wären wir nicht bei den Naturwissenschaften. Man könnte schauen, welche Bedeutung sie kulturhistorisch haben. Alles lässt sich in die Wissenschaft einfügen. Aber zu glauben, dass Einhörner physisch existieren, ist aufgrund der Datenlage keine gute Idee.

Es geht also um den Unterschied zwischen wissenschaftlich belegbaren Fakten und alternativen Fakten?
Es ist wichtig, diesen Unterschied klarzumachen. Gerade jetzt ist das ein Problem, mit dem unsere Gesellschaft massiv kämpft. Wir haben in den USA einen Präsidenten, der es mit Fakten nicht so genau nimmt, der einfach Dinge behauptet, ohne sie belegen zu können. Wir haben ein Aufkommen von Verschwörungstheorien, die höchst problematisch sind. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie können sie echten Schaden anrichten. Wir haben auch krude Theorien, die einfach Angst machen. Wenn ich etwa an die Impfskeptiker denke. Leute, die anderen irgendwelche Gefahren einreden, die in Wirklichkeit gar nicht da sind oder kleiner sind, als man uns einzureden versucht. Das halte ich für schädlich. Da brauchen wir mehr Wissenschaft, um dagegenhalten zu können.

»Die Wissenschaft erhebt gar nicht den Anspruch, die letztgültige Erklärung für alles zu haben«

Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, tun wissenschaftliche Gegenbeweise oft damit ab, dass "die Wissenschaft einfach noch nicht so weit" sei.
Genau das habe ich schon oft gehört. Und genau das ist der Riesenunterschied: Die Wissenschaft erhebt gar nicht den Anspruch, die letztgültige Erklärung für alles zu haben, die für immer die gesamte Wahrheit sein wird. Das kann Wissenschaft nicht, denn Wissenschaft wird nie abgeschlossen sein, es kommt immer etwas Neues dazu. Das heißt aber nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse von heute auf morgen weggeworfen werden, weil etwas anderes kommt. Natürlich gibt es Theorien, die ersetzt worden sind: Wir haben z. B. ursprünglich geglaubt, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums, später, die Sonne sei der Mittelpunkt. Heute wissen wir, es ist noch komplizierter, die Sonne kreist um das Zentrum der Milchstraße, und die wiederum ist auch nur ein winziger Teil des Universums. Aber das heißt nicht, dass alle alten Überlegungen völlig falsch waren. Wir können die Bahn der Erde wunderbar berechnen, indem wir alles außerhalb des Sonnensystems ignorieren - so als wäre die Sonne der Mittelpunkt des Weltalls. Auch wenn bessere Theorien dazukommen, funktionieren die alten noch immer. Dass die Wissenschaft nicht alles weiß, ist natürlich völlig richtig.

Und die Wissenschaft gibt es wenigstens zu?
Genau. Und sie kann auch herausfinden, welche Teile es Wissens vielleicht noch ein bisschen wackelig sind und was wohl noch in 300 Jahren als Faktum gelten wird.

Und wenn jemand seine Theorien als unwiderlegbar ansieht, ist das ein starkes Indiz Richtung Verschwörungstheorie und Esoterik?
Auf jeden Fall. Auf Seiten der Pseudowissenschaft, der Esoterik und der Verschwörungstheorien gibt es Leute, die sagen, nach ihrer Philosophie oder ihren Heilmethoden gibt es keinen Raum mehr für weitere Fragen. Die betrachten das als abgeschlossenes Gedankengebäude. Das ist immer ein Alarmsignal.

Warum geistern so viele Verschwörungstheorien herum? Warum diese Sehnsucht nach alternativen Fakten?
Diese Sehnsucht gab es immer. Wobei es derzeit allerdings interessanterweise zwei gegenläufige Effekte gibt. In Zeiten der Corona Pandemie ist etwa der deutsche Virologe Christian Drosten zum Popstar geworden. Aber auf der anderen Seite gibt es eben auch ein stärkeres Vertrauen in Dinge, die nicht Wissenschaft sind. Beides hat wohl psychologisch die gleiche Ursache dass wir in schwierigen Zeiten Gewissheit suchen. Nur muss man eben sehr vorsichtig sein, was man wirklich als Gewissheit betrachtet und was nicht.

Wie entlarvt man am Stammtisch wirkungsvoll Verschwörungstheorien?
Das Patentrezept dafür gibt es leider nicht. Aber bei Verschwörungstheorien ist immer ein wichtiger Inhalt, dass weite Teile der Wissenschaft, der Politik oder der "Eliten", wie es dann immer heißt, unter einer Decke stecken und die Wahrheit nicht mit der Bevölkerung teilen. Da frage ich gerne: Haben Sie schon einmal versucht, eine Überraschungsparty mit mehr als 20 Personen zu organisieren? Hat es funktioniert oder ist etwas durchgesickert? Es ist unheimlich schwer, Geheimnisse zu bewahren. Wenn etwa die Mondlandung, wie von Verschwörungstheoretikern gerne behauptet, gar nicht stattgefunden hätte, sondern in Hollywood Studios inszeniert worden wäre, wären da mehrere Tausend Menscheneingeweiht gewesen. Das wäre nie geheim geblieben.

Außer vielleicht, man murkst die alle ab, womit man gleich die nächste Verschwörungstheorie hätte.
Wenn es zu einem rätselhaften Massensterben Tausender NASA Experten gekommen wäre, könnte man mit gutem Grund misstrauisch sein. Aber das war natürlich nicht so.

»Wissenschaft lebt davon, dass unüberblickbar viele Leute winzige Beiträge liefern, die am Ende zueinanderpassen«

Wissenschaftler, Politiker und "Eliten" plaudern also auch gerne und würden das bei Manipulationen tun?
Und man darf sich Wissenschaft nicht so vorstellen, dass sich da irgendwelche Autoritäten heimlich untereinander ausmachen, was als wahr zu gelten hat. Wissenschaft lebt davon, dass unüberblickbar viele Leute winzige Beiträge liefern, die am Ende zueinanderpassen. Das ist genau die Art von System, in dem Fälschungen sehr schnell aufgedeckt und Irrtümer korrigiert werden. Denn es ist unmöglich, das Ganze zentral zu steuern. Dazu kommt: Niemand von diesen vielen einzelnen Wissenschaftlern hätte etwas zu verlieren, wenn sie eine Verschwörung auffliegen lassenwürden. Im Gegenteil: Gäbe es eine Verschwörung der Wissenschaft und würden Faktenunterdrückt, wäre die Motivation groß, das aufzudecken. Damit würde man ja als Wissenschaftler berühmt werden.

Es gibt unwissenschaftliche Dinge, an die viele glauben: etwa die Homöopathie. Kann man die unter "Hilft's nicht, schadet's nicht" zulassen?
Eine Gretchenfrage und schwer zu beantworten: Ich gehöre nicht zu denen, die radikalsagen: Das ist alles furchtbar und man muss es verbieten. Es ist auch für Leute, die wie ich naturwissenschaftlich geprägt sind, gut, da ein bisschen großzügig zu sein. Jeder von uns glaubt an Irrationales, meist sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Ich bin sicher, dass auch ich einige Überzeugungen habe, von denen ich noch gar nicht weiß, dass sie der Wissenschaft widersprechen. Andererseits sollte man alternative Heilmethoden auch nicht als harmlos hinstellen: Es gibt viele traurige Geschichten von Leuten, die mit wissenschaftlicher Medizin geheilt hätten werden können und das unnötig lange hinausgezögert haben. Die haben gesagt: "Ich geh eh zum Wunderheiler." Und irgendwann war es dann zu spät.

Wir hatten in Österreich im letzten halben Jahr die ungewohnte Situation, dass Politik stark wissenschaftsbasiert vorgegangen ist und bei Corona auf Experten gehört hat. Nun hat man das Gefühl, Politiker halten das zunehmend schwerer aus, weil es ihren Handlungsspielraum beeinflusst.
Es wäre gar nicht möglich und gar nicht wünschenswert, Politik durch Wissenschaft zu ersetzen. Es wäre bei der Corona-Pandemie keine gute Idee, zu sagen, wir stellen ein Expertengremium zusammen, und die beschließen dann, was zu geschehen hat. Politik ist etwas anderes als Wissenschaft, es geht oft um Abwägungen, für die es keine eindeutige wissenschaftliche Antwort gibt. Bei einem Lockdown muss man Gesundheit und ökonomische Probleme gegeneinander abwägen. Wie viele Milliarden Euro Schaden sind wir als Gesellschaft bereit zu stemmen, um welche Zahl von Menschenleben zu retten? Das ist eine Frage, die wissenschaftlich nicht beantwortbar ist. Das Gleiche gilt für die Frage, ob gerade Gerechtigkeit zwischen Bevölkerungsgruppen herrscht, die unterschiedlich stark betroffen sind. Politik muss ihre Aufgaben schon selber erledigen -aber immer auf Basis wissenschaftlicher Fakten. Politik, die sich über Fakten hinwegsetzt, ist auf jeden Fall schlechte Politik.

Wurde bei Corona immer auf wissenschaftlicher Basis entschieden?
Nein, sicher nicht. Rund um den Lockdown schon, danach wurde nicht immer rational gehandelt und wissenschaftlich erklärt.

Zum Beispiel?
Etwa dieses Hin und Her mit dem Maskentragen. Oder wie viele Leute man unter welchen Bedingungen treffen darf. Ich glaube, das würde besser funktionieren, wenn man Risikofaktoren und Ansteckung mit wissenschaftlichen Argumenten erklärt hätte. So fühlt sich das für viele beliebig an, als würde sich die Politik etwas ausdenken. Dann befolgt man Dinge weniger gern, als wenn man das Gefühl hat, da stehen Fakten dahinter.

»Dass Wissenschaft immer ihre Bereiche hat, wo noch keine Einigkeit herrscht, muss man aushalten«

In den letzten Monaten haben sich die Experten allerdings auch oft widersprochen. Das mag im wissenschaftlichen Umfeld inspirierend sein, die Bevölkerung verwirrt es.
Das ist ein Problem. Allerdings sind diese Dinge oft auch medial aufgebauscht worden. Virologe A sagt etwas anderes als Virologe B. Dabei wird nicht transportiert, dass sich die beiden in den wesentlichen Fragen über Corona ja einig sind. Dass Wissenschaft immer ihre Bereiche hat, wo noch keine Einigkeit herrscht, muss man aushalten. In einer Pandemie ist das aber natürlich für die Bevölkerung unangenehm.

Anders als bei Corona hat die Politik z. B. beim Klimawandel wissenschaftliche Fakten lange ignoriert. Wird da diese Pandemie auch ein Umdenken bewirken?
Der Klimawandel ist wirklich ein erstaunliches Beispiel, weil die Wissenschaft ja seit den 80er-Jahren sagt, dass wir hier ein Problem haben. Daran sieht man, wie träge sich wissenschaftliche Erkenntnis oft bei Entscheidungsträgern durchsetzt. Vielleicht ist das jetzt für manche in der Politik ein neues Erlebnis, zu erkennen, dass man keine Entscheidungen ohne wissenschaftliche Basis treffen kann. Manche versuchen es trotzdem. Das geht dann nicht so gut aus. Die erzählen dann, man soll sich Chlorbleiche-Präparate gegen Corona spritzen lassen.

Apropos Donald Trump: Mit Wissenschaftsfeindlichkeit kann man Wahlen gewinnen.
Das ist schon ein Alarmsignal, dass Trump Präsident sein kann mit einer vollkommenen Geringschätzung von Wissenschaft. Dass das nicht automatisch dazu führt, dass er nicht gewählt wird. Das zeigt schon, dass wir ein Problem haben. Und ich würde das nicht auf die USA reduzieren.

"Wer nichts weiß, muss alles glauben" - offenbar ist das für manche Menschen ein ganz angenehmer Zustand.
Wenn man die wissenschaftlichen Fakten ausblendet, kann man sich seine eigenen Fakten erfinden. Das ist natürlich praktisch. Es löst nur keine Probleme.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (39/2020) erschienen.