Wo einst der
Nordbahnhof war

Auf 85 Hektar entsteht Stück um Stück ein neuer Stadtteil. Auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs werden rund 20.000 Menschen wohnen. Zwischen den neuen Häusern bleiben alte Gleise, Wasserturm, ein Stück Stadtwildnis und Platz für die Wechselkröten erhalten

von Wien - Wo einst der
Nordbahnhof war
© Bild: News Michael Mazohl

Der Kontrast könnte größer nicht sein. An einem Ende die längst fertiggestellten Bauten am ehemaligen Nordbahnhof und ihre "alteingesessenen" Bewohner-Innen rund um den Rudolf-Bednar-Park -ein modernes Grätzel. Am anderen eine Stadtwildnis, wo Spaziergänger lustwandeln, Fledermäuse flattern und die streng geschützten Wechselkröten neuen Lebensraum gefunden haben. Mitten in der Wildnis der denkmalgeschützte Wasserturm, wo im Sommer Freiluftkino und Konzerte stattfanden. Schaut man von hier Richtung Praterstern, ragen Baukräne wie riesige, abgebrochene Zahnstocher in den Himmel. Und ganz drüben, da staubt, rattert und dröhnt es am Bauabschnitt des "Austria Campus". Nächstes Jahr soll er fertig sein und Bürogebäude für rund 8.000 Arbeitsplätze bieten. Auch die Unternehmenszentrale der UniCredit Bank Austria kommt hierher. Das Nordbahnhof-Areal ist eine der größten innerstädtischen Entwicklungszonen Wiens. Stück um Stück verdichten sich die Abschnitte zu einem neuen Stadtteil.

Alfred Karrer ist schon einer der Alteingesessenen im Viertel. Seit 2009 wohnt er am Rudolf-Bednar-Park und schaut von seiner Wohnung bis zur Donau. Nicht weit von hier, am Nordwestbahnhof, ist er aufgewachsen und hat später im Waldviertel gelebt, wo der nächste Supermarkt 14 Kilometer entfernt war. Hier ist der heute 73-Jährige froh über die Infrastruktur: "Ich hab 500 Meter zur U-Bahn, 150 bis 250 Meter zu drei Supermärkten, 300 Meter zum Donauufer und den Park vor dem Haus. Das ist eine Lebensqualität, die mir viel wertvoller ist als der schönste Wald und die Wiese rund ums Haus."

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    Bewohnerin Michaela Moser in der Gemeinschaftsküche. Auch das Team des Architekturbüros kocht hier mittags

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    Der Großteil der Wohnungen am Nordbahnhof ist gefördert, so wie auch das so genannte Zebrahaus mit den "Discobalkonen"

Sein Auto hat er verkauft, er braucht es hier nicht mehr. Nur dass eine Ampel in der Vorgartenstraße, ursprünglich für eine Busabbiegung eingerichtet, so lang auf Rot steht, dass sie meist ignoriert wird, das stört ihn. Und dass es nichts gebracht hat, darauf aufmerksam zu machen.

Nicht weit entfernt wohnt Christoph Salzmann, im sogenannten Zebrahaus, das er schon als Rohbau inspiziert hatte, ehe er sich für eine der geförderten Wohnungen entschied. Nicht alles, was an Extras wie Dachgärten oder Fitnessraum versprochen war, wurde verwirklicht, das waren "kleine Ernüchterungen". Aber er findet: "Im Großen und Ganzen ist das Wohnen am Nordbahnhof super. Auch von den Nachbarn will keiner weg."

10.000 neue Wohnungen

85 Hektar misst das Areal des früheren Nordbahnhofs. Im Jahr 1838 eröffnet, war er bis 1918 der größte Bahnhof der Habsburgermonarchie. Nach deren Zerfall verlor er an Bedeutung. Im zweiten Weltkrieg nützten ihn die Nazis zur Deportation von Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager. Nach dem Krieg wurde der Verkehr sukzessive zu anderen Bahnhöfen verlagert.

Seit den 1990er-Jahren entsteht hier ein neues Viertel zum Wohnen und Arbeiten. "Das Nordbahnhofgelände", sagt Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, "ist eines der größten und bedeutendsten innerstädtischen Entwicklungsgebiete Wiens. Fast zwei Drittel der geplanten 1,5 Millionen Quadratmeter Bruttogeschoßfläche sind für Wohnnutzung vorgesehen. Bis 2025 sollen hier in mehreren Etappen circa 10.000 Wohnungen für mehr als 20.000 Bewohner entstehen." Bei den ersten Projekten am Areal war der Schwerpunkt, "Junges und kostengünstiges Wohnen" sowie "Interkulturelles Wohnen", erklärt Ludwig: "Der Standort ist insbesondere für junge Erwachsene und Familien mit urbanem Lebensstil aufgrund der stadtnahen Lage und der guten öffentlichen Anbindung sehr attraktiv."

»Der Standort ist insbesondere für junge Erwachsene und Familien mit urbanem Lebensstil sehr attraktiv «

Rainer Hauswirth ist vor gut drei Jahren eingezogen und zufrieden: "Die Wohnung ist super. Ich find's cool, dass es hier verkehrsberuhigt ist und die Kinder sich draußen bewegen können.

Im Innenhof ist viel Geschnatter, aber kein Verkehrslärm zu hören. Ich finde das ganze Ding ganz gut gelungen, auch die soziale Durchmischung." Auch wenn einiges noch fehle, ein paar Beiseln und ein Kinderarzt zum Beispiel. Aber: "Es wächst sich voll."

Es gibt verschiedene Wohn-und Finanzierungsformen, von gefördert bis zu frei finanziertem Eigentum. Für den Großteil der Wohnungen wurden Mittel der Wohnbauförderung eingesetzt. "Der geförderte Wohnbau, sagt Stadtrat Ludwig, "bildet das Fundament, auf dem die gesamte Entwicklung der neuen Gebiete aufbaut", von der Seestadt Aspern über das Sonnwendviertel am Hauptbahnhof bis zum Nordbahnhof. Rainer Hauswirth zum Beispiel zahlte einen niedrigen Genossenschaftsbeitrag und hat eine Miete von rund zehn Euro pro Quadratmeter. An der Nachfrage nach geförderten Wohnungen, aber auch nach Eigentumswohnungen ist abzulesen, wie attraktiv das Wohnen im Viertel ist. Dacheigentumswohnungen am Park sind inzwischen mit mehr als 800.000 Euro für knapp 100 Quadratmeter auf dem Markt.

Einige Wohnprojekte haben einen Themenschwerpunkt, etwa die "Bike City" bei der Walcherstraße mit einem Schwerpunkt auf Radinfrastruktur. Da gibt es große Radabstellräume, eine Werkstätte und breite Aufzüge, in die Fahrräder passen. Dafür waren weniger Autoabstellplätze notwendig.

Gemeinschaftsprojekt

Besonders gelungen ist auch das Wohnprojekt in der Krakauer Straße. Anfangs setzten sich ein paar Leute zusammen, um gemeinschaftliches Wohnen zu organisieren, erzählt Michaela Moser. Sie gründeten einen Verein und planten, gemeinsam und mit dem Bauträger.

Heute wohnen rund 100 Menschen hier. "Ein siebenstöckiges Haus zu verwalten, ist manchmal anstrengend, weil man alles aushandeln muss", sagt Moser. Dafür ist immer jemand da, der beim Blumengießen im Urlaub hilft oder Medikamente für Kranke holen kann. Und die Kinder kommen im ganzen Haus herum. Auch dieses Haus wurde von der Stadt gefördert.

700 Quadratmeter wurden für Gemeinschaftsflächen reserviert, etwa die Gemeinschaftsküche, in der Bewohner-Innen täglich kochen, auch die Leute aus dem Architekturbüros im Haus kochen mittags hier. Es gibt einen Dachgarten, einen Indoorspielraum, eine Werkstatt, Räume für Veranstaltungen, gemeinsame Dachterrassen und ein Gästeappartement, sodass Gästezimmer in der eigenen Wohnung überflüssig sind. Zwei "Solidaritätswohnungen" werden an Personen, die sich das sonst nicht leisten könnten, vermietet. Unten im Haus wird der "Salon am Park", ein Lokal mit nostalgischem Interieur, von neun HausbewohnerInnen betrieben.

Heute ist auch Peter Rippl von der Initiative "Lebenswerter Nordbahnhof" in den Salon gekommen. Mit BürgerInnenengagement hatte er eigentlich nichts am Hut, sagt er. Aber der Weg zum Park war, als er 2011 einzog, durch einen Bauzaun abgesperrt, und man musste einen weiten Umweg machen: "Das habe ich nicht verstanden."

Das war der Ausgangspunkt, sich als Gruppe in das Bürgerbeteiligungsverfahren für die nächste Bauphase einzubringen. Sie setzte sich für alte Bäume ein, für einen Steg über den Handelskai zum Donauufer und gegen die plötzliche Widmung eines Platzes im nächsten Bauabschnitt als Mistplatz. "Über den hatte keiner geredet, obwohl er offenbar länger geplant war", sagt Rippl. "Wir haben uns überrumpelt gefühlt, pflanzen lassen wir uns nicht." Nach Medienberichten über den Mistplatz am Rande des Vorzeige-Wohngebietes ist er vorerst vom Tisch, aber der endgültige Beschluss noch nicht gefasst.

Dabei ist die Stadt auf das Leitbild für den nächsten Bauabschnitt entlang der Nordbahnstraße, das in einem aufwendigen Beteiligungsprozess erstellt wurde, stolz. Das Viertel soll zum Herzeigeprojekt werden, die Bevölkerung mitgestalten, und frühere stadtplanerische Fehler will man vermeiden.

Wohnen und Wildnis

Es sollte keine Schlafstadt werden, sagt Alexandra Madreiter von der Stadtteilplanung, das war eine der Zielsetzungen, sondern hier soll gewohnt, gearbeitet, gelebt werden. Dazu gehören genug Grünflächen. Neben dem zentral gelegenen und mit EU-Mitteln geförderten Rudolf-Bednar-Park mit Bäumen und Schilfgärten, Spielplätzen, Skaterbahn und Wassertümpeln kommt in der nächsten Bauphase eine weitere große Grünfläche dazu: im Areal "Freie Mitte - vielseitiger Rand". Rundherum werden Häuser in unterschiedlicher Höhe, darunter acht Hochhäuser, stehen, mit Durchblick zur grünen Mitte.

Planungsstadträtin Maria Vassilakou sagt: "Hier entsteht nicht nur qualitätsvoller Wohnraum für Tausende Wienerinnen und Wiener, sondern es liegt ein ganz klarer Fokus auf der Schaffung von ausreichend Grünraum. Eine grüne Mitte wird für große Lebensqualität sorgen, die Stadtwildnis erhält einen Teil der über Jahrzehnte gewachsenen Wildnis auf dem ehemaligen Bahnhofsareal."

In dem naturnah gestalteten Freiraum ist auch Platz für die streng geschützten Wechselkröten, die am alten Bahnhofsgelände jahrzehntelang ihre Ruhe hatten. Ehe die Bagger anrollten, wurden sie in Ersatztümpel nahe dem alten Wasserturm übersiedelt.

Kein Durchzugsverkehr

Eine Besonderheit ist die Verkehrsberuhigung im ganzen Viertel, es gibt keinen Durchzugsverkehr. U-Bahn und Schnellbahn sind nahe, der Autobus dicht getaktet, und später wird die Straßenbahnlinie O ins Nordbahnviertel verlängert. Sammelgaragen liegen unter der Erde, drüber ist Parkfläche. Dafür gibt es mehr Fahrradabstellplätze und ein dichtes Wegenetz für FußgängerInnen und RadfahrerInnen.

Bei den monatlichen Nordbahnvierteltreffen wird über das Konzept und über die Aktivitäten im Stadtteil berichtet, sagt Andrea Mann von der Gebietsbetreuung. Hier wird nach den begehrten Nachbarschaftsgärten ebenso gefragt wie nach freien Wohnungen.

Zwischen dem Park und dem "Freie Mitte"-Areal liegt das Projekt "Wohnallee mit Bildungscampus". Dort entstehen ein zweiter Campus -der erste ist seit 2010 in Betrieb -und weitere rund 640 Wohnungen. Für die Bruno-Marek-Allee, die zwischen den Bauarealen durchführt, wird es ein "Erdgeschoßmanagement" geben, damit im Grätzel endlich mehr Geschäfte öffnen. In den anderen Häusern wären die einzelnen Bauträger dafür zuständig, die sich aber lieber auf die Wohnungsvergabe konzentrieren. Geschäfte und soziale Einrichtungen im Erdgeschoß soll die Allee zu einer lebendigen Straße machen.

Das täte auch den wenigen Lokalen im Viertel gut, die bisher unter den Bauarbeiten gelitten haben. Luha Hamad, Dejan Palalic und Patrik Barbic mussten ein Lokal aufgeben und haben nun in "DasNord", näher an den Bürogebäuden an der Lasallestraße, mehr Kundschaft. Zum After-Work-Hotspot mit Fußballübertragungen und abendlichem Pub-Quiz wird demnächst auch ein Mittagsangebot kommen. Hamad und Palalic wohnen mit ihren Kindern im Viertel, und es gefällt ihnen hier. Früher haben sie in einem Altbau im 6. Bezirk für zwei Zimmer "kalt" so viel wie jetzt für vier Zimmer "warm" und mit Garage bezahlt. Die beiden finden: "Hier ist die Lebensqualität hoch und das Klima super."

Hier kann man in die Zukunft schauen

Eine frühere Lagerhalle wurde zum Schauraum in die Zukunft von Nordbahnhof und Nordwestbahnhof. Im "Stadtraum" in der Nordbahn-Halle zeigt ein digital bespieltes 3-D-Modell Geschichte und Zukunft der beiden größten innerstädtischen Stadtentwicklungsgebiete Wiens. Auf Knopfdruck ist zu sehen, was aus den früheren Bahnhöfen wird. Hierher kamen den Sommer über AnwohnerInnen, solche, die es werden wollen und Interessierte aus dem In-und Ausland, von Studierenden bis Stadtplanern aus aller Welt.

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