Die überraschende Geschichte der Wiener Gewässer

Die Klimakrise verändert die Anforderungen an den Lebensraum. Ein Blick auf die Geschichte der Wiener Gewässer zeigt, dass die Menschen immer schon versucht haben, die Natur in ihrem Sinne zu gestalten.

von Wien - Die überraschende Geschichte der Wiener Gewässer © Bild: Ricardo Herrgott/News

Am Abend des 28. Februars 1830 atmete die Wiener Bevölkerung auf. In den Tagen davor war die Angst vor Hochwasser umgegangen, doch nun sank das Wasser um 0,90 Meter. Die Menschen, die in der Nähe des Donaukanals wohnten, im heutigen zweiten und neunten Bezirk, gingen beruhigt schlafen - um kurz nach Mitternacht von einer ungeheuren Flutwelle aufgeweckt zu werden. Das Wasser hatte sich hinter einem Eisstoß bei Korneuburg, einer Barriere aus Eisbrocken, aufgestaut und dann wegen des Tauwetters plötzlich gelöst. Das Wasser schoss förmlich in die Stadt. Das mitgeschwemmte Eis zertrümmerte Gartenzäune und Haustore, Kanäle brachen auf, Brunnen gingen über. 74 Menschen kamen ums Leben.

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Vor allem arme, alte und schwache Leute, die in Keller- und Erdgeschoßwohnungen lebten und sich nicht schnell genug retten konnten. Pfründerinnen, also Armenhaus-Bewohnerinnen, waren darunter, Tagelöhner, zwei kleine Pflegekinder aus dem Findelhaus, die dreijährige Amalia Frühwirth und Peter Ludik, erst eins. Das Hochwasser von 1830 hing mit klimatischen Veränderungen, dem Ende der kleinen Eiszeit, zusammen. Und es gab gemeinsam mit anderen Flutkatastrophen in den darauf folgenden Jahren den Anstoß dazu, endlich die Donauregulierung in Angriff zu nehmen.

© Ricardo Herrgott/News Die Porzellangasse in der Rossau, ein donaukanalnaher Teil des 9. Bezirks, wurde 1830 von einem großen Hochwasser heimhesucht

Hochwasser, Klima, Maßnahmen. Das klingt vertraut und ist doch kein Alleinstellungsmerkmal des 21. Jahrhunderts. Der Mensch kämpft seit jeher um und gegen seinen Lebensraum. Ein Blick auf die Geschichte der Wiener Gewässer zeigt, wie dieses Ringen immer schon die Stadtgeschichte prägte. Und wie schnell es dann auch wieder vergessen ist. Es ist, was ist. Der Blick fest auf kommende Herausforderungen gerichtet, nicht die vergangenen.

Aber kann ein Spaziergang entlang der Spuren längst verschwundener (Wasser-)Landschaften helfen, zu verstehen, worauf es heute ankommt?

Alter Uferverlauf

Der zweite Wiener Bezirk, Leopoldsgasse. Ein Bus braust vorbei, Kindergeplapper, ganz normale Stadtgeschäftigkeit. Hier wird die bekannte Fernsehserie "Vorstadtweiber" gedreht. Hier befindet sich der bekannte Karmelitermarkt. Hier, erklärt die Umwelthistorikerin Gertrud Haidvogl, war früher Wasser. Der starke Bogen, in dem die Gasse verläuft, bildete noch vor wenigen Jahrhunderten den Uferverlauf des "Wiener Arms" der Donau, heute bekannt als Donaukanal. Stück für Stück begannen die Menschen, versandetes Flussgebiet zu besiedeln, immer weiter Richtung Südwesten bis zur aktuellen Bebauungskante am heutigen Donaukanal.

© Wien Museum/Johann Wachtl Der Blick vom Leopoldsberg ging 1830 noch ins Grüne - und auf einen ganz anderen Fluss, als wir ihn heute kennen
© Ricardo Herrgott/News Durch die Donauregulierung ab 1870 wurde der breite, sich in Nebenarme verzweigende Strom in ein gerades Flussbett geleitet. Die Neue Donau (links neben der Donauinsel) wurde 1972-1987 als Entlastungsgewässer gebaut

Haidvogl erforscht mit Hilfe historischer Quellen, wie das Wasser die Stadt prägte. Historische Quellen, das sind einerseits Karten oder vielmehr "Skizzen und Ansichten", präzisiert sie, "auf denen einzelne Merkmale der Landschaft und auch der Stadt sicherlich schon genau wiedergegeben sind, aber sie waren nicht lagegenau und sicherlich nicht maßstabsgetreu." Und andererseits schriftliche Quellen. Im konkreten Fall eine Beschreibung der Bebauung der Leopoldstadt im jüdischen Ghetto. "Wenn man solche Quellen miteinander in Verbindung setzt", sagt Haidvogl, "kann man solche Rückschlüsse ziehen."

Darauf zum Beispiel, dass große Teile des heutigen 2. Wiener Bezirks, der Leopoldstadt, im Wasser der Donau lagen. Von Forschern wiederentdecktes Wissen, das jahrhundertelang in Vergessenheit geraten war, und das einen ganz andern Blick auf die Stadt ermöglicht.

© Ricardo Herrgott/News In "Wasser. Stadt. Wien. Eine Umweltgeschichte" (39 Euro), einem 2019 erschienen Buchprojekt des Zentrums für Umweltgeschichte an der BOKU, sind zahlreiche alte Skizzen und Ansichten enthalten. Es ist auf der Internetseite der Stadt Wien zu bestellen, der Versand ist gratis

Alles ist in Bewegung in so einer Großstadt, nichts fix. Ihr Gesicht ändert sich ständig. Was heute noch unveränderbar scheint, sieht morgen schon ganz anders aus. Die Leopoldsgasse ist nur ein Ort von vielen, an denen sich die Donau in die Stadt eingeschrieben hat. Die Kirche "Maria am Gestade" zum Beispiel wurde einst direkt an der Abbruchkante der Uferböschung der Donau errichtet und ist nun ein gutes Stück vom Donaukanal entfernt. Die berühmte Strudlhofstiege im neunten Bezirk überwindet die Stufe zu einer uralten Donauterrasse.

In dem 500-Seiten-Band "Wasser. Stadt. Wien. Eine Umweltgeschichte", den Haidvogl mit Friedrich Hauer, Severin Hohensinner und anderen Forschern herausgegeben haben, ist anschaulich und farbenprächtig aufbereitet, wie Wien von seinen Gewässern geprägt wurde. Von der einst wilden, unberechenbaren Donau, vom Wien-Fluss, der noch nicht lange das harmlose Flüsschen von heute ist, das verloren durch eine riesige Regulierungsanlage rinnt. Und von den Wienerwaldbächen, die heute gezähmt und unterirdisch durch die Kanalisation fließen. Es sind Geschichten von Krankheit und Tod, von unbezähmbaren Naturgewalten und menschlichem Gestaltungswillen. Und sie zeigen, wie früh die Menschen begannen, in die Natur einzugreifen. Oder es zumindest versuchten.

Regulierungsversuche

Das römische Vindobona wurde am südlichen Rand des damals stark verzweigt durchs Wiener Becken fließenden Donaustroms gegründet. Doch schon im Mittelalter drohte der Wiener Arm der Donau, Vorläufer des heutigen Donaukanals, zu versanden, und man bemühte sich, ihn mit Hilfe eines Pflugs schiffbar zu halten. Die Donau suchte sich stattdessen andere Wege. Bis 1530 verlief der Hauptarm, "Taborarm" genannt, im oberen Teil wie der heutige Donaukanal und dann, entlang der Wallensteinstraße und nördlich am Augarten vorbei quer durch den heutigen zweiten Bezirk. Dann änderte sich der Ausströmwinkel, und der quer durch die "Wolfsau", die heutige Brigittenau, den heutigen 20. Bezirk, fließende "Wolfsarm" gewann an Bedeutung.

© Wien Museum Zwischen 1894 und 1899 wurde an der Stelle, wo der Donaukanal von der Donau abzweigt, eine Wehranlage errichtet, de bereits beim Hochwasser 1899 Überschwemmungen der Donaukanal-nahen Bezirke verhinderte. Der berühmte Architekt Otto Wagner gestaltete es wegen seiner exponierten Lage opulent als Stadttor
© Ricardo Herrgott/News Auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes befindet sich nach wie vor ein begehbarer Dachaufsatz mit Rundblick, die sogenannte "Laterne", die früher der Hochwasserbeobachtung der Donau diente

Das Buch "Wasser. Stadt. Wien" dokumentiert die verzweifelten Versuche, der Donau Einhalt zu gebieten. Mit kilometerlangen Leitwerken sollte das Wasser Mitte des 16. Jahrhunderts in den alten Taborarm geleitet werden - mit wenig Erfolg. Der Grund für die veränderte Flussdynamik: die Vorboten der kleinen Eiszeit, die Europa bis ins 19. Jahrhundert prägte und zahlreiche Überschwemmungen verursachte.

Neues Flussbett

1870, vor fast genau 150 Jahren, wurde mit der Donauregulierung begonnen. Inspiriert und ermutigt vom Vorbild des Suez-Kanals hob man einen neues, gerades Flussbett aus - das alte hatte der heutigen Alten Donau entsprochen - und bändigte den wilden Strom. Eine Maßnahme, die drei Ziele verfolgte, erklärt Historikerin Haidvogl: "Es ging darum, die Schifffahrtsverhältnisse zu verbessern, der Stadt Hochwasserschutz zu gewähren und Siedlungsraum zu schaffen. Wien ist damals von ca. einer halben Million Einwohner auf zwei Millionen Einwohner gewachsen. Die Menschen mussten ja irgendwo wohnen. Darum hat man auch um 1870 im 2. Bezirk damit begonnen, alle ehemaligen Gewässerverläufe zuzuschütten."

In der Oberen Augartenstraße ist die Vergangenheit noch zu erahnen. Wenn man weiß, worauf man achten muss. Die Straße, eine der ältesten des 2. Bezirks, wurde erhöht gebaut, um sie gegen Hochwasser zu schützen, erklärt Gertrud Haidvogl. Demselben Zweck diente die Mauer, die den Augarten säumt. Denn auf seiner anderen Seite, etwa da, wo heute die Nordwestbahnstraße verläuft, befand sich bis vor 200 Jahren ein Donauarm, das Fahnenstangenwasser - sogar mit Schwimmbad. Seine letzten Reste wurden in den 1870ern zugeschüttet. Fast genau an dieser Stelle, dem derzeitigen Bahnhofsgelände, soll in den nächsten Jahren wieder ein Naherholungsgebiet entstehen.

Nicht nur die Donau, auch der Wienfluss und die zahlreichen, meist vergessenen Wienerwaldbäche machten den Wienerinnen und Wienern jahrhundertelang zu schaffen. Eine alte Ansicht zeigt, wie der Alsbach um 1860 über den Elterleinplatz im 17. Bezirk floss. Man sieht hölzerne Geländer, kleine Brückchen, ein idyllischer Anblick. Seit 1878 ist der Alsbach - der im weiteren Verlauf unter der Alserbachstraße entlangfließt und schließlich in den Donaukanal mündet - eingewölbt und nicht mehr zu sehen, wie so viele Wiener Bäche. In "Wasser. Stadt. Wien" werden 28 Wienerwaldbäche aufgezählt. Vom Alsbach über den Währinger Bach, den Marienbach und Rosenbach bis hin zum Ottakringer Bach. Fast alle sind aus dem Stadtbild verschwunden und werden durch die Kanalisation geführt. Aus gutem Grund, meint Gertrud Haidvogl. Denn die Bäche, die im Normalfall wenig Wasser führen, können sehr rasch ansteigen und dabei extreme Hochwasser verursachen.

© Wien Museum Bis 1877/78 floss der Alsbach frei über den Elterleinplatz, danach wurde er eingewölbt. Ein idyllisches Bild, aber tatsächlich verursachten die Wienerwaldbäche in Wien auch große Probleme. An sich wasserarm, konnten sie plötzlich stark anschwellen und Schäden verursachen. Und sie dienten oft der Müllentsorgung
© Ricardo Herrgott/News Der Elterleinplatz heute

Und sie wurden in alten Zeiten zur Müllentsorgung verwendet. "Es gab zwar seit dem 14. Jahrhundert Bestimmungen, die das unregulierte Ablagern von Abfällen und Einleiten von Abwässern in die Bäche verboten haben, trotzdem war es ein großes Problem. Organisches Material, das eingebracht wurde, Gemüse, tierische Abfälle und so weiter sind teilweise lange an den Ufern gelegen, vor sich hin verrottet und haben das Wasser stark verschmutzt."

Müll, Gestank, Krankheit

Noch ärger war das Problem beim Wienfluss. Es gab immer wieder Verordnungen, die das Entleeren von Senkgruben in die Wien oder das Schwemmen von Pferden oder Schweinen verboten, aber das nützte wenig. An der Wien lagen zudem zahlreiche Färbereien, Gerbereien, Schlachtereien etc. Haidvogl berechnet, dass die Wasserqualität der heutigen schlechtesten Gewässergüteklasse V entsprochen haben muss, also: übermäßig verschmutzt bis ökologisch zerstört.

"In der ersten Phase der Kanalisation stieg die Verschmutzung der Bäche und Flüsse ganz extrem an", sagt Getrud Haidvogl. "Exkremente wurden nicht mehr entnommen und entsorgt, sondern in die Gewässer geleitet. Sehr problematisch wurde das, als die Cholera nach Wien kam." Die Epidemie 1831/32 kostete 4.158 Menschen das Leben und gab erste Anstöße, ein Kanalsystem zu entwickeln, das den Unrat wegschwemmte. Die Arbeit der "Nachtführer", früher Kanalräumer, die in den Nächten Senkgruben und später auch Kanäle leerten und die Inhalte zu besonderen Deponieplätzen brachten, war damit obsolet. Mit der fortschreitenden Regulierung des Wienflusses stieg die Lebensqualität der Menschen. Die Eröffnung der Ersten Hochquellenleitung 1873 brachte endlich großen Bevölkerungsgruppen Zugang zu frischem, sauberen Trinkwasser.

© Ricardo Herrgott/News

150 Jahre nach der Bändigung der Wiener Gewässer stehen Wien und die Welt vor neuen Herausforderungen. Die Klimakrise rückt das Miteinander von Mensch und Natur in ein neues Licht. Aus der zubetonierten Stadt muss eine grüne werden, sonst ist sie nicht mehr lebenswert, sind sich Stadtplaner und Klimaschützer einig. In der Geschichte der Wiener Gewässer, meint Gertrud Haidvogl, liegen Denkanstöße für die Zukunft. Wie ist zum Beispiel die Donauregulierung aus heutiger Perspektive zu bewerten?"Man würde heute wahrscheinlich eine andere Projektvariante aufgreifen, die im 19. Jahrhundert durchaus auch überlegt wurde, nämlich den Verlauf der jetzigen Alten Donau, bis 1870 der Hauptarm, zu nutzen. Und man würde heute auch ganz anders mit den damals noch vorhandenen Seitenarmen der Donau umgehen und sie nicht so radikal abtrennen und zuschütten."

Einen Rest des Fahnenstangenwassers zwischen Augarten und Nordwestbahngelände zum Beispiel "würde man ganz sicher übriglassen", freie Auflächen in der Stadt generell schützen, meint Haidvogl. Lassen sich im Interesse einer klimafreundlichen Stadt Gewässer wiederherstellen? An den Stadträndern gibt es entsprechende Projekte, so wurde etwa der Liesingbach renaturiert. Im Zentrum sind viele Flächen mittlerweile verbaut. Im "Urban Heat Islands (UHI) - Strategieplan" der Stadt Wien wird die Schaffung neuer Wasserflächen als teuer und pflegeaufwendig eingeschätzt, allerdings mit hohem Nutzen für die Lebensqualität. Ähnlich die Einschätzung der Freilegung von verrohrten - also durch die Kanalisation geführten - Gewässern.

Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren natürlichen Ressourcen ist ohnehin eine Tochter der Zeit, meint Umwelthistorikerin Haidvogl. Beim Nachdenken über die Zukunft der Stadt "gibt es ganz selten einfach Schwarz oder Weiß. Wir haben auch unsere eigenen Brillen. Es wäre spannend, zu wissen, was die Menschen in hundert Jahren dazu sagen, was wir heute vielleicht alles falsch machen."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 30/2021.