Wie die Koalition zugrunde geht

ÖVP und Grüne können kein Interesse an Neuwahlen haben. Beide würden verlieren. Sie sind jedoch dabei, im Umgang miteinander zunehmend rücksichtslos zu werden.

von Politische Analyse - Wie die Koalition zugrunde geht © Bild: Privat

Analyse

"Fertig, aber nicht vorbei“, steht allmählich für einen Dauerzustand der Koalition: Seit Sebastian Kurz vor einem Jahr gehen musste, befürchten Grüne, die daran mitgewirkt haben, dass sich Türkise rächen werden – oder dass sie unberechenbar und als Partner unzumutbar werden. Als Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im November ausgerechnet den Kurz-Vertrauten Gerald Fleischmann zum Kommunikationschef seiner Partei machte, war so ein Moment, in dem manche glaubten, dass es jetzt aber wirklich bald vorbei sein werde.

Das wurde als Kampfansage gewertet. Viel mehr noch tat es das Veto gegen einen Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien, das Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) mit Nehammers Unterstützung durchzog. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hatte zuvor ausdrücklich betont, dass das nicht Regierungslinie sei. Er wurde brüskiert.

Man muss jedoch präzise sein: Die ÖVP hat nicht die Absicht, die Koalition zu sprengen und Neuwahlen anzustreben. Sie würde abstürzen und sehr wahrscheinlich das Kanzleramt verlieren, ja unter Umständen sogar auf der Oppositionsbank landen. Die missliche Lage, die auch Ländervertretern zu schaffen macht, die sich in den kommenden Monaten einer Landtagswahl zu stellen haben, hat jedoch Folgen: Es ist ein Kampf ums eigene Überleben ausgebrochen.

Das Schengen-Veto war bezeichnend dafür. Hier geht es darum, möglichst viele der 250.000 Ex-FPÖ-Wähler bei Laune zu halten, die Kurz 2019 für die Partei gewonnen hat. Weitere Bemühungen darum sind vorprogrammiert. Damit gehen Belastungsproben für die Koalition einher.

Grüne Leidensfähigkeit

Die Leidensfähigkeit der Grünen ist groß. Auch sie müssten damit rechnen, bei einer Neuwahl zu verlieren. Und viel eher noch als die ÖVP, der nach einer solchen vielleicht noch die Option bleiben könnte, mit SPÖ oder FPÖ weiter zu regieren, müssten sie wohl alle Macht abgeben und sich nach wenigen Jahren wieder mit der Oppositionsrolle begnügen.

Das hält Türkis-Grün zusammen, wirkt aber nur bedingt: Werner Kogler mutet seinen Leuten viel zu. Er ist Teil einer Koalition, die eine Asyl- und Migrationspolitik verfolgt, die grünen Zugängen widerspricht. Wie es auch anhaltende Nachlässigkeit bei der Korruptionsbekämpfung tut. Oder die geplante Einstellung der "Wiener Zeitung", der ältesten noch erscheinenden Tageszeitung der Welt: Mehr und mehr Funktionäre sehen hier Schmerzgrenzen erreicht. Bei der Korruptionsbekämpfung hat selbst der sonst so zurückhaltende Bundespräsident Alexander Van der Bellen die Geduld verloren. Das erhöht den Druck auf Kogler, wenigstens auf anderen Feldern, wie dem Klimaschutz, verstärkt aufzuzeigen. Ob es der ÖVP gefällt oder nicht. Optimal wäre es für ihn sogar, sie würde schäumen. Dann könnte er sich umso besser profilieren.

Zahl

Fast kein Asyl bei den Nachbarn

In Asylfragen sucht Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Und zwar auch, weil die EU diesbezüglich versage, wie er immer wieder erklärt.

Dass Österreich mit sehr vielen Flüchtlingen konfrontiert ist, hängt jedoch weniger mit der Politik der Europäischen Union zusammen als vielmehr mit dem Kurs einzelner Mitgliedsstaaten und unter ihnen wiederum ganz besonders jenem Ungarns.

Hierzulande wurden in den zwölf Monaten bis Ende Oktober immerhin 100.466 Asylanträge verzeichnet. Beim Nachbarn handelte es sich gerade einmal um 50. In Worten: fünfzig. Genauer: In der Eurostat-Datenbank werden für zwei Monate gar keine und für zehn jeweils fünf ausgewiesen. Das sind gerundete Werte. Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination Österreich verweist auf eine Erklärung dafür, dass es insgesamt nur so wenige sind: Seit 2020 ist es de facto ausschließlich über die Botschaften in Kiew (Ukraine) und Belgrad (Serbien) möglich, zu einem Asylverfahren in Ungarn zu kommen.

Kooperation statt Konfrontation

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat ihre Tätigkeit in Ungarn 2021 eingestellt. Vorausgegangen war dem ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, dass das Land gegen die Verpflichtung verstoße, Asylsuchenden wirksamen Zugang zu internationalem Schutz zu gewähren. Im vergangenen Jahr entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte außerdem, dass die Inhaftierung Geflüchteter in sogenannten Transitzonen rechtswidrig ist.

Österreich hält sich zurück. Auf die Frage, warum er zu Ungarn kein kritisches Wort finde, erklärte Karl Nehammer zuletzt in der ORF-"Pressestunde", dass etwas anderes wichtiger ist für ihn: Ungarn sei ein Nachbarland, man brauche es für die Kooperation in sicherheitspolizeilichen Fragen.

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Bericht

Ein Land im Dauerwahlkampf

Das schlechteste Argument gegen eine vorgezogene Nationalratswahl ist, dass man sich in Zeiten wie diesen keinen Wahlkampf leisten könne: Die Bundespolitik steht ohnehin schon im Zeichen mehrerer Urnengänge. Am 29. Jänner findet in Niederösterreich eine Landtagswahl statt, am 5. März in Kärnten und am 23. April in Salzburg. Das hat auch Einfluss auf die Arbeit von Kanzler und Co. Parteifreunde in den Ländern erwarten sich Unterstützung. Bereits Anfang Juli forderte die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) von Karl Nehammer (ÖVP), eine Strompreisbremse vorzulegen. Was sie nicht hinderte, zusätzlich eine eigene zu fixieren.

Zu behaupten, in Österreich herrsche eigentlich immer Wahlkampf, ist nicht weit übertrieben. Steuerzahler kommt das teuer. Es wird eine "Koste es, was es wolle"-Politik befeuert. Nötige unpopuläre Maßnahmen, wie eine Pensionsreform, bleiben hingegen tabu.

Rufe nach einer Zusammenlegung von Wahlen gibt es regelmäßig, sie werden jedoch ignoriert. Derzeit könnte wohl nur die FPÖ ein Interesse daran haben: Sie befindet sich überall auf dem aufsteigenden Ast. Gegen die Abhaltung zum Beispiel einer Nationalrats- und der drei erwähnten Landtagswahlen an einem Sonntag Anfang 2023 hätten im Unterschied dazu unter anderem wohl die Landeshauptleute etwas. Es würde ungleich schwerer werden für sie, sich in Szene zu setzen. Sie müssten sich Plakatflächen mit Vertretern der Bundesebene teilen, die zwar gut für eine Strompreisbremse, bei den Leuten aber halt weit weniger angesehen sind.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at