Was uns stark macht: Spektakuläre Erkenntnisse über das Immunsystem

Was unsere Abwehrkräfte stärkt oder schwächt

Was uns stark macht: Spektakuläre Erkenntnisse über das Immunsystem

"Es war schon ein eigenartiges Gefühl", erinnert sich der Wiener Fotograf Moritz Baier an den Augenblick, als er zum ersten Mal das neue Medikament einnahm. Argwöhnisch hatte er die klare Flüssigkeit betrachtet, den Schraubverschluss abgenommen und schließlich den Inhalt geschluckt. „Geschmeckt hat es wie salziges Wasser.“ Doch im Wasser befanden sich etwa 2500 mikroskopisch kleine Eier des Schweine-Peitschenwurms, die kurz darauf in seinem Darm schlüpfen sollten. Baier, 27, leidet seit dem Volksschulalter an Morbus Crohn, einer aggressiven, schubweise verlaufenden Autoimmunkrankheit, bei welcher das Immunsystem den eigenen Darm angreift und schwere Entzündungen hervorruft. Die Würmer, so die Hoffnung, sollten das Immunsystem besänftigen, es normalisieren und ihm wieder den Unterschied zwischen „fremd“ und „eigen“ nahebringen. Einen auf den ersten Blick ähnlich unappetitlichen Ansatz verfolgt die „Parsifal-Gruppe“, ein Team europäischer Allergie-Experten. Seit vergangenem Februar stehen die Wissenschafter in der Intensivphase der Tests für eine Bakterienimpfung, bei der Säuglinge mit bestimmten Komponenten von Stallmist behandelt werden. „Das wird aber nicht gespritzt, sondern über die Nase inhaliert“, erklärt das Salzburger Parsifal-Mitglied Josef Riedler, Kinderprimar im Krankenhaus Schwarzach. „Das entspricht besser dem natürlichen Kontakt mit Keimen, der ja auch über die Schleimhäute stattfindet.“

Hygiene-Hypothese. Wurmtherapie und „Schmutzimpfung“ sind Früchte der „Hygiene-Hypothese“, die 1989 erstmals vom Londoner Epidemiologen David Strachan formuliert wurde und nun mit einer ganzen Reihe ungewöhnlicher neuer Wirkstoffe ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückt. Strachan hatte nachgewiesen, dass allergische Krankheiten in kinderreichen Familien seltener auftreten. Dies führte er darauf zurück, dass sich die Geschwister häufig untereinander anstecken. Zahlreiche Studien lieferten weitere Belege für den günstigen Einfluss von Infektionen sowie den Kontakt mit Schmutz. Besonders deutlich wird das beim internationalen Vergleich von Krankheiten wie Asthma, das in reichen Ländern mit hohen Hygienestandards wesentlich häufiger auftritt. Andere Studien zeigten den schützenden Effekt von unpasteurisierter Milch, die offenbar ein vorzüglicher Mikrobentransporter ist, sowie das deutlich niedrigere Allergierisiko von Kindern, die auf Bauernhöfen im ständigen Kontakt mit Tieren und deren Mist aufwachsen.

Nach zwei Jahrzehnten intensiver Forschungsarbeit, die durch die Fortschritte der Mikrobiologie und Bioinformatik möglich wurden, gelang es nach und nach, die Beobachtungen der Epidemiologen auf konkrete Wirk- und Beziehungsmechanismen zwischen Immunsystem und der mikrobiellen Umwelt zurückzuführen. Dabei zeigte sich, dass die bislang stets als eine Art „Reich des Bösen“ betrachtete Mikrobenwelt mit dem menschlichen Biosystem eine Vielzahl nützlicher Kooperationen eingegangen ist. Ein gesundes Immunsystem, so die These der Wissenschafter, braucht also den Kontakt mit den Keimen – ein Mangel kann zu Funktionsstörungen führen. Die herkömmliche, seit vielen Jahrzehnten dominierende Denkschule steht dieser These diametral entgegen. Nach ihrer Auffassung ist das Immunsystem ein kriegerischer Bio-Apparat, dessen haupt­sächliche Aufgabe darin besteht, den Organismus gegen die ständig anstürmenden Massen von potenziell gefährlichen Mikroorganismen zu verteidigen. Viren, Bakterien oder Würmer gelten in dieser Denkschule als egoistische, rein auf ihre eigene Vermehrung bedachte Keime, die entweder krank machen oder ihren Wirt als Parasiten schwächen.

Sicherheitsdenken. Um dem Immunsys­tem in seinem Abwehrkampf beizustehen, werden im Ernstfall Antibiotika und Wurmmittel verabreicht, entzündungshemmende oder fiebersenkende Medikamente gegeben und laufend neue Impfungen entwickelt, die als Vorwarnsystem fungieren, um Krankheiten bereits im Vorfeld abzufangen. „Infekte und Krankheiten haben keinerlei positive Wirkung“, formuliert etwa der steirische Kinderarzt und Impfexperte Ingomar Mutz dieses Credo. „Manche schwächen die Abwehrkraft noch Wochen nach der Genesung und stellen ein ständiges Gesundheitsrisiko dar.“ Antibiotika und Co hätten – durch die Unterstützung eines nicht immer zuverlässigen Abwehrsystems – hingegen wesentlich dazu beigetragen, die Lebenserwartung der Menschen stetig zu erweitern. In Argumentationsnot geraten die Vertreter dieser Fachrichtung jedoch, wenn es um die Erklärung eines ebenso modernen wie bedrohlichen Phänomens geht: den enormen Anstieg der Allergien- und Autoimmunkrankheiten, die heute längst den Status einer Epidemie erreicht haben. In den Industrieländern ist bereits jede zweite Familie von Heuschnupfen, Neurodermitis, multipler Sklerose oder chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten betroffen. 32 Millionen Europäer leiden an Asthma. Mehr als sechs Millionen davon leben mit der Angst, der nächste Anfall könnte tödlich sein. Der Höhepunkt der Krise scheint noch längst nicht erreicht.

Eine im vergangenen Februar präsentierte Studie des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheit ergab, dass bereits ein Prozent der Bevölkerung an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa laboriert. „Diese chronisch entzündlichen Darmerkrankungen nehmen einen progressiven Verlauf bis hin zur Dickdarmentfernung und dem Einsetzen eines künstlichen Darm­ausgangs“, warnt der Wiener Gastroenterologe Walter Reinisch. Seit 1992 ist die Zahl der Patienten in Österreich um 270 Prozent angestiegen. Alle diese schwer behandelbaren Störungen haben ihre Ursache in Fehlfunktionen des Immunsystems. Doch warum dreht unser „Schutzengel“ plötzlich durch? Warum hält die Körperabwehr ganz normale Blütenpollen für derart gefährlich, dass die Immunzellen in der Folge massenhaft Histamin und andere entzündungsfördernde Signalstoffe freisetzen? Wie ist es möglich, dass sich Abermillionen prall mit giftigen Substanzen gefüllter Kampfzellen auf die eigenen Nerven stürzen und sie irreparabel schädigen? Autoaggressive Tendenzen werden doch bereits bei der Grundausbildung unreifer Zellen im Thymus, dem Zentralorgan des Immunsystems, mit dem Signal zum sofortigen Selbstmord geahndet. Wieso greifen sie dennoch unbehelligt den Darm an, so als hätten sie den Unterschied zwischen „fremd“ und „eigen“ niemals erlernt?

Immunregulation. Während die Anhänger der alten Schule weiter aufrüsten und das Immunsystem selbst mit verbesserten Cortisonpräparaten sowie im Labor geschaffenen künstlichen Antikörpern unter Beschuss nehmen, widmen sich die Vertreter der Hygiene-Hypothese diesen Fragen ganzheitlicher. Zumeist sind dafür die größten Vortragssäle reserviert, wie etwa Anfang Mai beim Jahreskongress der US-Kinderärzte in Honolulu mit mehr als 7000 Teilnehmern. Im Hauptvortrag referierte der Immunologe David Relman von der kalifornischen Stanford University über unsere vielfältige Symbiose mit dem Reich der Mikroben. Gleich nach ihm sprach Graham Rook, Professor am Zentrum für Infektionskrankheiten des University College London, über die gemeinsame Evolution des Menschen mit Mikroorganismen und dessen Auswirkungen auf die Immunregulation. „Wir tragen im Schnitt 1,5 Kilogramm Bakterien mit uns herum und beherbergen zehnmal so viele fremde Zellen wie eigene“, sagt Rook (siehe Interview Seite 120). „Diese Mikroflora ist ein Teil unseres Organismus und stellt ein genauso wichtiges Organ dar wie beispielsweise die Nieren.“

Darmbakterien ernähren sich etwa von Bestandteilen unserer Nahrung, die für uns unverdaulich wären. Im Gegenzug versorgen sie uns mit lebenswichtigen ­Vitaminen und Fettsäuren. Doch Relmans und Rooks Thesen gehen weit über diesen symbiotischen Nahrungstausch hinaus. Vielmehr interessiert sie die Interaktion der Mikroben mit unserem Immunsystem. Wie die Zähne eines Zahnrads greifen die Rezeptoren der Abwehrzelle in die Rezeptoren des Keims. Zumeist sind es dendritische Zellen, die diesen ersten Kontakt herstellen. Diese nach ihren charakteristischen Verzweigungen (von griechisch „dendron“, der Baum) benannten weißen Blutkörperchen bewegen sich in geringer Zahl an allen Außengrenzen unseres Organismus, also entlang der Haut, den Lungenbläschen sowie den Schleimhäuten von Nase, Magen und Darm. Obwohl sie bereits 1868 vom deutschen Pathologen Paul Langerhans entdeckt wurden, lieferten erst die Studien der vergangenen Jahre genauere Einblicke in die Arbeitsweise der im Labor notorisch schlecht kultivierbaren Zellen.

Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Art der Immunantwort auf Fremdkörper festzulegen. Die dendritischen Zellen entscheiden, ob ein Eindringling Freund- oder Feindstatus hat. Ständig interagieren sie mit allem, was ihnen begegnet. Sogar lebende eigene Zellen knabbern sie zuweilen an. Begegnen den dendritischen Zellen gefährliche Viren oder Bakterien, werden diese gefressen. Frisch gelabt, machen sich die Dendriten auf den Weg zu den Lymph­knoten, wo sie ihre Beute vorzeigen. Dabei präsentieren sie dessen Merkmale und suchen unter den Milliarden von Immunzellen exakt jene aus, deren Rezeptoren perfekt auf jene der Eindringlinge passen.

Im Gegensatz zu anderen Fresszellen sind nur die dendritischen Zellen in der Lage, die Immunreaktion gezielt in eine von drei Richtungen zu steuern (siehe Grafik Immunsystem Seite 119). Über ­bestimmte Botenstoffe können die Dendriten den T-Zellen des Abwehrsystems das Signal geben, sich zu vermehren und sich dann mit ihrem Vorrat an Zellgiften auf die Keime zu stürzen. Beim zweiten Reaktionsmuster werden B-Zellen dazu aktiviert, Unmengen von Antikörpern herzustellen. Diese winzigen Ypsilon-förmigen Partikel können den Eindringlingen vielfach nicht selbst den Garaus machen. Sie docken jedoch an deren Rezeptoren an und behindern sie damit bei ihrem Zerstörungswerk. Außerdem werden Moleküle, an denen Antikörper kleben, als verdächtig markiert, sodass sich andere Abwehrzellen auf sie stürzen. Am weitaus häufigsten geben die dendritischen Zellen aber Entwarnung. Doch auch diese „Nullaktion“ hat konkrete Folgen: Die Dendriten aktivieren mit ihren Botenstoffen regulatorische Zellen. Diese beruhigen das diffizile System und halten es im Gleichgewicht.

Gen-Gedächtnis. Um richtig zu entscheiden, haben die dendritischen Zellen ihre über Jahrmillionen trainierte gemeinsame Vergangenheit mit der Mikrobenwelt in einer Art evolutionärem Gedächtnis in ihrem Genom gespeichert. Feinde werden an ihrem Rezeptormuster entlarvt – aber auch die alten Freunde erkannt und für sinnvolle Zwecke eingespannt. „Die Evolution handelt in solchen Fällen stets nach der Devise: Wenn du etwas nicht vermeiden kannst, so nutze es“, beschreibt der französische Nobelpreisträger Jacques Monod dieses Prinzip. „Also verwandelte sie den Kontakt mit Keimen in ein lebensnotwendiges Gut.“ Nun fördert die Wissenschaft laufend neue, bislang unbekannte Beziehungen mit dem einstigen „Reich des Bösen“ ans Tageslicht. So ist das Immunsystem bei der Geburt noch unreif und zur Abwehr von Infekten auf mütterliche Leih-Antikörper, den so genannten Nestschutz, angewiesen. Die zelluläre Abwehrreaktion erlernt das Immunsystem erst nach und nach, während gleichzeitig der Nestschutz im Lauf der ersten zwei Lebensjahre verloren geht. Dies geschieht in fließendem Übergang.

Während Infektionen, die bei Neugeborenen lebensgefährlich wären, normalerweise gänzlich vermieden werden, sind nach einigen Monaten immerhin noch so viele mütterliche Antikörper vorhanden, dass Infekte, wenn schon nicht verhindert, so doch abgeschwächt werden können. „Das ist im Prinzip die ideale natürliche Impfung“, erklärt der Schweizer Nobelpreisträger Rolf Zinkernagel, der am Universitätsspital Zürich die Abteilung für Experimentelle Immunologie leitet. „Alle wesentlichen Infektionen müssen von den Mädchen also vor der Pubertät durchgemacht werden“, erläutert Zinkernagel ein Grundkonzept der Evolution, „denn nur damit erwerben sie selbst die Abwehrkräfte, die sie dann wieder an ihre Babys weitergeben können.“ Dieses erworbene immunologische Gedächtnis wird bei Frauen – im Gegensatz zu Männern – hormonell noch verstärkt, sodass sie bereits in der Schwangerschaft über den Mutterkuchen ausreichende Vorräte an das Ungeborene weitergeben können.

Dass Kinder nicht schon mit einem fertig ausgebildeten Immunsystem zur Welt kommen, hat stichhaltige Gründe. Zum einen ist ein anpassungsfähiges System perfekt formbar und kann sich besser auf die jeweiligen Lebensumstände einstellen. Es macht schließlich einen gewaltigen Unterschied, ob ein Kind auf einem indischen Bauernhof oder in einer westlichen Großstadt geboren wird. Zum anderen wird damit vermieden, dass das Immunsystem des heranwachsenden Kindes mit den „fremden Zellen“ der Mutter in Konflikt gerät.

Biosignal. Erst seit Kurzem ist bekannt, dass für die Ausbildung eines eigenen Immunsystems der Kontakt mit ganz bestimmten Bakterien notwendig ist. Die Evolution hat den Kontakt mit den Mikroben also auch als biologisches Signal dafür genutzt, dass das Kind nun geboren ist und fortan kein Interessenkonflikt mehr mit dem mütterlichen Organismus besteht. „Es wurde oft darauf hingewiesen, dass es kein Zufall sein kann, dass der Geburts­kanal so nahe am Anus liegt, wo das Baby sofort mit einem Schwall von Bakterien begrüßt wird“, erklärt Rook. „Bei Delphinen ist es sogar üblich, dass sie auf das neugeborene Baby koten.“ Dies wäre auch eine mögliche Erklärung für das deutlich erhöhte Allergierisiko nach Kaiserschnitt-Entbindungen, das bereits in mehreren Studien nachgewiesen wurde, zuletzt in einer kalifornischen Arbeit mit knapp 3500 Kindern im Alter zwischen acht und 17 Jahren. Babys, die keimfrei aus dem Mutterbauch geholt wurden, hatten ein um 57 Prozent höheres Heuschnupfen- und ein um 33 Prozent höheres Asthmarisiko.
Wenn die Kontakte mit der Mikrobenwelt fehlen, droht ein regulatorisches Ungleichgewicht, und einer der beiden aggressiven Arme des Immunsystems gewinnt die Oberhand – mit fatalen Konsequenzen: Eine fehlgeleitete zelluläre Immunantwort attackiert die eigenen Zellen und kann damit eine Autoimmunkrankheit auslösen. Und wenn sich die Antikörper gegen harmlose Hausstaubmilben oder Gräserpollen richten, so resultieren daraus die typischen Allergiebeschwerden.

Erst vor fünf Jahren gelang Robert Wildin, Molekulargenetiker an der Universität Portland, der Beweis für dieses neuartige Thesengebäude. Wildin hatte Kinder mit einer seltenen Erbkrankheit untersucht, die sowohl unter heftigen Allergien als auch an diversen Autoimmunkrankheiten litten. Dabei fand er heraus, dass bei diesen Patienten das Gen zur Bildung regulatorischer Immunzellen defekt ist. Auch im Mäuseversuch verfiel das Immunsystem ins sofortige Chaos, wenn dieses Gen abgeschaltet wurde.

Beruhigung. Das konkrete Gegenteil ereignet sich bei Wurminfektionen. Diese meist harmlosen Darmparasiten üben einen stark beruhigenden Effekt auf das Immunsystem aus, indem sie eine Unzahl regulatorischer Zellen aktivieren. „Möglicherweise haben die Würmer im Lauf der Evolution erlernt, das Immunsystem zu besänftigen, um nicht selbst das Ziel von Angriffen zu werden“, vermutet der argentinische Neurologe Jorge Correale von der Universität Buenos Aires.
Wenn die Vermutung zutrifft, ist dieser Trick für Menschen mit Autoimmunkrankheiten jetzt jedenfalls Gold wert. Correale demonstrierte dies an 24 Patienten mit multipler Sklerose, von denen die Hälfte mit Würmern infiziert war. Hier traten während der mehrjährigen Beobachtungszeit nur insgesamt drei der gefürchteten Aggressionsschübe gegen das eigene Nervensystem auf. In der wurmfreien Kontrollgruppe zählte er hingegen 56 Schübe. Die Ergebnisse wurden sowohl über Magnetresonanz-Aufnahmen des Gehirns als auch über Immunwerte bestätigt. Ähnlich positive Resultate erzielte ein Forscherteam der Universität Iowa in Iowa City bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Bis Wurmpräparate in Apotheken abgegeben werden dürfen, dauert es wohl noch einige Jahre. Gezüchtet werden die Würmer aber schon – neben anderen nützlichen Tieren wie Blutegeln oder Maden zur biologischen Reinigung von Wunden. Und zwar in Barsbüttel bei Hamburg vom weltweit größten Produktionsbetrieb für Biotherapie in der Medizin, Ovamed. Ende des Vorjahres kam nun auch grünes Licht von der Europäischen (EMEA) sowie der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA). Im Juli startet in Australien eine erste große Zulassungsstudie.

Alternative. Harald Vogelsang, Leiter der Arbeitsgruppe für Chronisch Entzündliche Darmerkrankungen an der Medizinischen Universität Wien, hat bereits Kontakt aufgenommen. „Das ist ein plausibler therapeutischer Ansatz und eine interessante Alternative zur bisherigen Therapie mit Cortisonpräparaten und künstlichen Antikörpern, die teils enorme Nebenwirkungen haben.“ Viele Patienten, so Vogelsang, wären dankbar für eine Alternative. Für den Wiener Morbus-Crohn-Patienten Moritz Baier trifft das in jedem Fall zu. „Ich habe zehn Jahre lang ständig Cortisontabletten schlucken müssen“, erzählt er. Die Nebenwirkungen seien so unangenehm gewesen, dass er schließlich in eine Operation einwilligte. Dabei wurde das von den Entzündungen am stärksten betroffene Stück des Darms entfernt. „Danach habe ich den Entschluss gefasst, nie wieder Immunsuppressiva zu nehmen“, sagt Baier. Auf die Würmer stieß er via Internet­recherche. Im Lauf der Jahre hat Baier nun „zur Vorsicht“ schon mehrere Kuren unternommen. Ob die Würmer mitgeholfen haben, dass bislang kein neuer Entzündungsschub aufgetreten ist, kann er ebenso wenig sagen wie sein behandelnder Arzt. Ekel vor dem Mittel empfand Baier jedenfalls nicht. „Wer so etwas grauslich findet“, sagt er, „soll halt beim Cortison ­bleiben.“

Damit nicht die Würmer selbst zum Problem werden, besteht das Präparat aus den gereinigten Eiern des Schweine-Peitschenwurms, für den der Mensch ein Fehlwirt ist. Die Eier schlüpfen zwar und werden zu Wurmlarven, doch bereits nach zwei Wochen gehen sie von selbst wieder ab. „Wir haben Erfahrungen mit rund 3000 Anwendern“, sagt Ovamed-Geschäftsführer Detlev Goj. „Über ernsthafte Nebenwirkungen hat bislang noch niemand berichtet.“ Doch nicht nur Wurmpräparate sind in Entwicklung, auch mit Bakterien wird eifrig geforscht. Das von der Parsifal-Gruppe derzeit erprobte Mittel besteht aus der Kombination von zwei Stallkeimen, die vorsichtshalber abgetötet werden. „Denn natürlich wollen wir es nicht riskieren, dass bei einem der Babys eine Blutvergiftung auftritt“, erklärt der Salzburger Allergie-Experte Josef Riedler. Die bisherigen Ergebnisse geben der „Schmutzimpfung“ gute Chancen bei Asthma und Heuschnupfen. Bei Neurodermitis zeigte sich bislang hingegen noch kein Effekt.

Ein ähnliches therapeutisches Konzept verfolgt Zsolt Szepfalusi mit seiner Arbeitsgruppe an der Universitätskinderklinik in Wien. Im Juli startet eine Placebo-kontrollierte Studie mit 150 Kleinkindern aus Hochrisiko-Allergikerfamilien. Die Kinder erhalten über ein Jahr täglich eine bislang noch streng geheime Mixtur aus Hausstaubmilben und Gräserpollen unter die Zunge getropft. „Mit dieser Schluckimpfung wollen wir vorbeugend die regulatorischen Faktoren des Immunsystems stärken“, erklärt Szepfalusi, „denn im Nachhinein können wir die Symptome einer Allergie nur noch lindern, aber nicht mehr heilen.“

Haustiere. Eine ganze Reihe von Studien beschäftigt sich mit Milchsäurebakterien, welche die Darmflora günstig beeinflussen sollen. In den Supermarktregalen finden sich bereits einige mit derartigen Bazillen angereicherte Joghurts. Die Resultate sind bislang aber recht widersprüchlich. „Das liegt daran, dass bei Weitem nicht alle Bakterien in der Lage sind, regulatorische Prozesse einzuleiten“, erklärt Graham Rook. „Hier wird momentan aber viel Arbeit investiert, um die geeigneten Stämme und die nötige Dosis zu finden.“ Die Zeiten scheinen jedenfalls vorbei, als den Eltern zur Allergievorsorge eine umfassende Putzaktion nach der anderen aufgebürdet wurde, um das Haus möglichst milbenfrei zu halten, und den Kindern sicherheitshalber die Haustiere weggenommen wurden. „Heute empfehlen wir einen möglichst entspannten Umgang mit der Natur“, sagt Riedler. Von Verboten ist keine Rede mehr: „Wir wissen vielmehr, dass der Umgang mit Haustieren schützt: Besser als eine Katze sind zwei Katzen.“

Allerdings stehen die Wissenschafter erst am Anfang, wenn sie die vielfältigen Interaktionen der Mikrobenwelt mit unserem Immunsystem aufklären wollen. Deutlich ist, dass die wichtigsten Einflüsse relativ früh in der Kindheit passieren. „Hier tun sich Entwicklungsfenster auf, die später nicht mehr zugänglich sind“, ­erklärt die Münchener Allergie-Expertin ­Erika von Mutius. Genauso aber bestehen auch Phasen der erhöhten Verwundbarkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Und es sei zu einfach, diese Verwundbarkeit aus­schließlich auf genetische Faktoren und Vererbung zurückzuführen. „Bis jetzt hat man noch kein einzelnes Gen gefunden, das für den Ausbruch von Asthma oder Allergien verantwortlich ist“, sagt von Mutius. Die Forscherin ist sich sicher, dass dies auch so schnell nicht passieren wird. Wesentlich gravierender scheint das „friendly fire“, das manche medizinischen Eingriffe für das Immunsystem bedeuten. Was gut gemeint ist, schadet oftmals mehr, als es nützt. Bei der Überverschreibung von Antibiotika war etwa viele Jahre lang nur von der Gefahr der Resistenzbildung die Rede. Ärzte warnten, dass diese Arzneimittel dann im Ernstfall nicht mehr wirken würden. Nun werden die Indizien immer dichter, dass Antibiotika auch selbst Krankheiten verursachen. „Sie haben einen enormen Effekt auf die Darmflora, und es ist jedes Mal eine Herausforderung, wieder eine gesunde Neubesiedelung zustande zu bringen“, erklärt Graham Rook. Da der Darm aber eines der zentralen Organe des Immunsystems ist, zeigen diese Störungen auch konkrete Wirkung auf eine spätere Neigung zu Allergien.

Rekordverbrauch. Eine aktuelle niederländische Arbeit belegt etwa, dass sich bei Babys, die über die Muttermilch mit Antibiotika in Kontakt kamen, das Risiko auf Asthma bis zum zweiten Lebensjahr um 55 Prozent erhöhte. Wenn die Kinder selbst Antibiotika bekamen, stieg es hingegen um glatte 265 Prozent. Die größte Gefahr geht dabei von Breitbandantibiotika aus. Eine Detailauswertung deutscher Mediziner ergab zudem, dass in bis zu 43 Prozent der Fälle die Verschreibung für das jeweilige Krankheitsbild nicht indiziert war, die Antibiotika also unnötig verabreicht wurden. Trotz aller Warnungen und Beteuerungen werden Antibiotika weltweit dennoch eher mehr denn weniger verschrieben. Österreich, das im vergangenen Jahrzehnt noch im unteren Drittel lag, macht da keine Ausnahme. „Seit 1998 haben wir einen stetigen leichten Anstieg“, sagt Helmut Mittermayer, Leiter des Referenzzentrums für Antibiotika-Resistenzen in Linz. Im Jahr 2007 verzeichnete die Statistik einen neuen Allzeitrekord beim Antibiotika-Verbrauch. In den Arztpraxen wurden 5,7 Millionen Packungen Antibiotika im Wert von 77 Millionen Euro verschrieben. Das entsprach einem Zuwachs von mehr als fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und der Verbrauch in den Spitälern ist hier gar nicht mitgezählt.

Neues Impfkonzept. Bei fiebersenkenden Medikamenten, die ebenfalls in die Arbeit des Immunsystems eingreifen und es von außen „overrulen“, zeigt sich ein ähnlich negativer Zusammenhang. Doch für diese Präparate gibt es keine offiziellen Verbrauchszahlen, weil die meisten fiebersenkenden Mittel weniger als die Rezeptgebühr kosten und deshalb von den Kassen nicht abgerechnet werden. Skeptisch macht die Vertreter der Hygiene-Hypothese auch die ständig steigende Zahl der Impfungen, vor allem gegen virale Erkrankungen wie Rotaviren oder die in jüngster Zeit stark propagierte Windpocken-Impfung. „Denn Viren gehören ebenso zu den alten Freunden“, erklärt Josef Riedler. Es sei ein Unding, alle noch so geringen Risiken auszuschalten. „Das wäre so ähnlich, wie wenn ich bei jedem kleinen Sturz eine Computertomografie machte. Das hat dann nämlich mehr Nebenwirkungen als Nutzen.“
Wohin der Weg stattdessen führt, machte der Londoner Infektionsexperte Graham Rook deutlich, als er kürzlich vor Impfexperten der US-Gesundheitsbehörde CDC einen Vortrag hielt: „In Zukunft“, sagte Rook, „werden wir Impfungen entwickeln, die Krankheiten ersetzen und nicht verhüten.“

Von Bert Ehgartner