Was muss man
heute noch wissen?

Wissen ist Macht. Doch dank Google, Wikipedia und Co. verliert das Sprichwort an Bedeutung. Was muss der Mensch heute tatsächlich noch wissen? Welchen Beitrag dazu muss die Bildung leisten? Und wann darf man sich auf technische Hilfe verlassen? Experten geben Antworten

von Digitales Zeitalter - Was muss man
heute noch wissen? © Bild: Sergei GAPON / AFP

Albert Einstein war ein Genie. Jedes Kind kennt den verrückten Professor mit dem zerzausten Haar als einen der größten Denker der Menschheit. Doch selbst Einstein musste für die Formulierung seiner allgemeinen Relativitätstheorie einen Mathematiker zu Rate ziehen - denn auch sein Wissen war begrenzt.

Heute, knapp 100 Jahre später, scheinen die Grenzen des Wissens aufzubrechen. Den meisten Menschen in Österreich ist es mittlerweile möglich, Informationen in unvorstellbarer Menge, in unterschiedlichsten Formen, kostenlos und in kürzester Zeit aus der Hosentasche zu ziehen und sich über Ozeane hinweg in Echtzeit darüber auszutauschen. Das Internet ermöglicht es uns, über soziale Schichten hinweg mehr zu wissen als jemals zuvor. Doch bedeutet das auch, dass wir tatsächlich mehr wissen? Oder müssen wir uns heute weniger merken als früher, weil wir sowieso alles nachschlagen können? Was sollen Menschen im Jahr 2019 verinnerlicht haben und was kann man heutzutage getrost Google überlassen? Macht es überhaupt noch Sinn, zehn Dezimalstellen von Pi auswendig zu lernen, zu wissen, in welchem Jahr die Berliner Mauer fiel oder wie viel ein Sauerstoffmolekül wiegt?

Mit 18 keine Ahnung von Steuern

Schüler würden sofort mit "Nein" antworten. Schon der römische Philosoph Seneca kritisierte "Non vitae, sed scholae discimus" - Wir lernen nicht für das Leben, sondern für die Schule. Und noch immer sträuben sich Schüler gegen ihre Hausübungen mit der Frage: "Was soll mir das bringen?"

Vor drei Jahren sorgte eine 17-jährige Schülerin aus Köln für großes mediales Aufsehen, indem sie anprangerte: "Ich bin fast 18 und hab' keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen." Stefan Hopmann, Professor für Bildungswissenschaft an der Uni Wien beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Lehrplänen und hat eine Erklärung für diesen Unmut: "Es gibt ein grundlegendes Missverständnis, dass Schule einfach ein Ort der Wissensvermittlung ist. Das ist sie nicht", sagt er (ganzes Interview S. 27). Die Kernaufgabe von Schule sei vielmehr eine Einführung in die Welt, wie sie nun einmal ist. "Und zu diesem Zweck ist es nicht die Aufgabe der Schule, X-beliebiges Wissen zu vermitteln, sondern verschiedene Arten und Weisen des Weltverstehens zu lehren."

Klassische Vorbilder

Für den Philosophen Konrad Liessmann gehört Philosophie naturgemäß zu diesem Verständnis: "Natürlich gibt es klassische philosophische Texte und Positionen, die man kennen sollte. Ich denke an Platon und seine Definition von Staat oder an Aristoteles und seine Ethik und Politik. Das sind die Grundlagen unserer modernen Bildung und Demokratie."

Trotz der Geschwindigkeit, mit der sich Wissenschaft, Technik, Literatur und Weltgeschehen entwickeln, ist laut Liessmann die Anzahl derjenigen Werke, die wirklich prägend sind, letztlich begrenzt. "Es gibt einfach Klassiker, die uns immer wieder zum Vorbild werden, die Auseinandersetzungen anregen, deren Geschichten immer wieder neu erzählt werden." Dazu zählt der Philosoph zum Beispiel Werke der griechischen Mythologie: "Homers ,Ilias', die ,Odyssee', die Figuren, die dort auftauchen und die Geschichten, die erzählt werden, begegnen uns immer wieder. Oder die klassische griechische Tragödie, Sophokles' ,Ödipus'. Man versteht ja nicht einmal Sigmund Freud und die Psychoanalyse, wenn man die nicht kennt", sagt Liessmann. "Und wer sich noch nie mit Shakespeare beschäftigt hat, der wird auch das österreichische Theater nie verstehen."

Des Pudels Kern

Die große Kunst im Bereich Bildungspolitik und Lehrplanerstellung sei es, diese großen "paradigmatischen Figuren und Umbrüche herauszuarbeiten und sich nicht in Details oder Moden zu verzetteln." Auch Goethes "Faust" sei ein solches Beispiel. Er liefere heute noch viele Anregungen: "Auch wenn Menschen es nicht gelesen haben, reden sie heute von der 'Gretchenfrage'."

Physiker, Autor, "Science Buster" und Kabarettist Werner Gruber nennt das Werk ebenso als eines der bedeutendsten aller Zeiten - wenn auch aus anderen Gründen: "Weil es bei ,Faust' um den Schöpfungsgedanken geht. Bei der Atombombe bauen wir den Urknall nach, das ist Faust pur. Wo ist denn des Pudels Kern? Na, ganz klar: im Atomkern." Liegt es also an der Beständigkeit, an der Aktualität oder der fächerübergreifenden Bedeutung eines Werkes, ob es in einen allgemein akzeptierten "Kanon des Wissenswerten" aufgenommen wird? Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann meint: "Allgemeinwissen hat viel mit Zeitgeist zu tun. Wenn ich in der Elbphilharmonie über den Weltuntergang diskutieren möchte, sollte ich über ein ganz anderes Allgemeinwissen verfügen, um dazuzugehören, als wenn ich mich im Rapid-Stadion darüber unterhalten will."

So sehen auch Experten unterschiedlicher Disziplinen ungleiche Ansätze: Journalistin und Autorin Ingrid Brodnig sieht beispielsweise eine Grundkompetenz der heutigen Zeit darin, sich mit digitaler Informationssuche und Sicherheit im Netz auszukennen: "Ich muss im Jahr 2019 wissen, wie ich zuverlässige Information im Internet finde." Genetiker Markus Hengstschläger findet es andererseits wichtig, sich über die grundlegenden Kenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens, der Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften hinaus, mit Sozialkompetenz, Kreativität, Flexibilität und den eigenen Talenten sowie kulturellen Entwicklungen auseinanderzusetzen: "Es muss klar sein, dass Bildung permanente Evolution ist. Wenn 1986 jemand gesagt hätte er studiert Orientalistik, hätten wir vielleicht gefragt, wozu. Heute ist es genau das Wissen, das uns helfen würde, die großen Probleme zu verstehen." Und Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb sagt: "Ein allgemeingebildeter Mensch im Jahr 2019 ist umweltbewusst."

Auf die Mischung kommt es an

Der Kern des Allgemeinwissens liegt laut Kromp-Kolb aber schlussendlich darin, Wechselwirkungen zu erkennen -innerhalb aber vor allem zwischen einzelnen Disziplinen. Auch Markus Hengstschläger ist der Ansicht: "Ich glaube nicht, dass jemand heute ein Spezialist der Transformation werden kann, ohne grundlegende Kenntnisse der Biologie zu haben. Genausowenig wie jemand ein guter Biologe werden kann, ohne ein gewisses Spektrum an Weltbestsellern gelesen zu haben." Und Physiker Werner Gruber sagt: "Wenn ich nur auf Physik spezialisiert wäre, dann würden wir uns heute nicht unterhalten."

Es scheint, alle sechs Experten sind sich darin einig, dass das Verständnis von Allgemeinwissen immer interdisziplinärer wird und die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen verwischen. Die Kunst aber bleibt: zu erkennen, wo die Schnittmengen liegen.

Autorin

Ingrid Brodnig Im Jahr 2019 sollte sich möglichst jeder damit auseinandersetzen, was ein sicheres Passwort ist und wissen, wie man richtige und zuverlässige Informationen im Internet findet. Man tut sich selber Gutes, wenn man das ernst nimmt, weil wir ja dauernd sehen, dass Accounts gehackt, sensible Daten gestohlen und Menschen erpresst werden. Ich würde in diesem Zusammenhang den Film "Citizenfour" empfehlen, der die Geschichte von Edward Snowden erzählt. Er zeigt, wie wichtig es ist, seine Daten zu schützen. Das Buch "The Four" von Scott Galloway liefert darüberhinaus eine gute Beschreibung über die Macht und das Geschäftsmodell der vier großen Unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple. Zweitens ist ein grobes Verständnis von Verschlüsselung sinnvoll. Das heißt nicht, dass jeder wissen muss, wie Verschlüsselung im Detail funktioniert, aber was der Nutzen davon ist und wie man sie im Alltag einsetzen kann. Nicht jeder muss zum Technik-Wunderwuzzi werden, aber es ist sinnvoll, ein paar Tricks zu kennen. Das gilt auch für die digitale Informationssuche. Zu wissen, wie ich richtige und zuverlässige Informationen im Internet finde, ist eigentlich eine Grundkompetenz geworden. Ich würde daher Quellenkritik als wichtiges Allgemeinwissen einstufen. Historiker waren immer schon mit den Ungewissheiten befasst, ob man einer Quelle trauen kann und ich finde es interessant, dass ausgerechnet so ein altes Fach wie Geschichtsforschung helfen kann, Fake News zu entlarven. Ähnlich helfen einem gute Rechtschreibkenntnisse, unseriöse Webseiten zu erkennen oder kann man mit klassischer Textinterpretation manch eine Schleichwerbung identifizieren.

Physiker

© Wolfgang Wolak

Werner Gruber Das Gemeine an der Allgemeinbildung ist, dass ich sie im Leben nur vielleicht brauchen kann. Und ich weiß vorher nicht, was ich brauchen kann. Ein allgemein gebildeter Mensch muss früher wie heute zwar nicht Prozentrechnen können, aber es erleichtert sein Leben. Genauso wie zu wissen, wie man einen Zahlschein ausfüllt, wie man eine Eierspeise macht oder wie man richtig verhütet. Ich behaupte, alles, was ich in meinem Leben gelernt habe, habe ich irgendwann für dieses oder jenes gebraucht. Es ist daher wichtig, eine Allgemeinbildung zu haben. Dazu gehört Goethes "Faust" wegen des Schöpfungsgedankens und "Per Anhalter durch die Galaxis", weil es zeigt, wie die Menschen mit Technik umgehen. Genauso sollte man nach wie vor die Arbeitsweise der Naturwissenschaften verstehen. Dabei ist es nicht wichtig, die Relativitätstheorie an sich zu verstehen. Das wird mir im praktischen Leben nichts bringen, weil sich Naturgesetze alle 50 bis 100 Jahre ändern. Aber sie müssen die Methodik dahinter begriffen haben: dass wir eine Hypothese aufstellen, diese mit einem Experiment überprüfen und alles dokumentieren. Das bringt jedem etwas. Im Moment passiert es, dass Leute auf Facebook irgendwelche Sachen dokumentieren, aber vorher noch nie eine Hypothese gehabt haben. Naturgesetze zu kennen, hilft also dabei, die richtigen Fragen mit sprachlicher Exaktheit zu stellen. Ich kann nicht alles wissen, aber ich kann Plausibilitätsfragen stellen, um herauszufinden, ob ein System konsistent ist oder nicht, ob das Fake News sind oder nicht. Andererseits hilft es dabei zu erkennen, welche Fakten ich akzeptieren kann und das ist etwas, das gerade heute wichtig ist.

Philosoph

© Michael Rausch Schott News

Konrad Liessmann Auf der einen Seite sind wir verführt uns viel zu ersparen, weil wir schnell nachschauen können. Auf der anderen Seite machen wir die Erfahrung, dass all diese Möglichkeiten nur dann einen Sinnzusammenhang ergeben und nur dann in die Tiefe gehen, wenn sie in einen Wissensrahmen eingebettet werden können. Wenn ich von Geschichte keine Ahnung habe und einen Wikipedia-Artikel über den ersten Weltkrieg lese, werde ich damit wahrscheinlich wenig anfangen können, weil das Grundsystem fehlt, um diese fantastische Möglichkeit der Recherche im Internet nutzen zu können. Natürlich kann man sagen, dass sich mit gewissen ökonomischen, sozialen Entwicklungen die Schwerpunkte eines Bildungskosmos ändern. Aber meine Idee von Allgemeinbildung hat sich in den Jahren kaum geändert, weil es mit den Grundlagen unserer Kultur zu tun hat. Im Grunde sind es zwei, drei Dutzend wichtige Autoren oder Werke von denen ich mir bei einem halbwegs gebildeten Menschen erwarte, dass er damit was anfangen kann. Andererseits geht es nicht um eine quantitative oder summarische Aufzählung, weil die ist zum Einen unendlich und zum Anderen lässt sich Allgemeinwissen nicht nicht auf einzelne Inhalte reduzieren. Die Rolle des Wissens in der Allgemeinbildung muss daher Prinzipienwissen sein: Ich sollte wissen, wie Wissen hervorgebracht wird, wie Wissenschaft funktioniert, was ein Ursache-Wirkungszusammenhang bedeutet, was der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität ist, welche Qualität Quellen haben, wie moderne Medien und Algorithmen funktionieren und welche Möglichkeiten an Manipulationen es gibt.

Klimaforscherin

© Matt Observe News

Helga Kromp-Kolb Ich glaube, dass wir heute wenig auswendig lernen müssen. Alles, was Faktenwissen ist -Formeln, Zahlen -kann man relativ leicht nachschauen. Womit ich mich aber wirklich beschäftigen muss, sind Wechselwirkungen, also wie die Dinge zusammenhängen. Das kann man eben nicht so leicht googlen. Wir sollten wissen, was die großen Herausforderungen sind, vor denen wir heute stehen. Dazu muss man wissen, was die ökologischen Grenzen unseres Planeten sind, wo wir noch Luft haben und wo wir schon aufpassen müssen. Die dringendste Frage im ökologischen Bereich ist wahrscheinlich der Klimawandel. Die zweitwichtigste die der Artenvielfalt. Das Buch "Die Grenzen des Wachstums" von Dennis Meadows ist der erste Weckruf, dass wir auf dem falschen Weg sind. Das sollte man kennen. Ein allgemeingebildeter Mensch im Jahr 2019 versteht, dass man auf einem begrenzten Planeten nicht unbegrenzt wachsen kann und versteht die grundlegenden Prozesse des Klimawandels. Das gehört meiner Meinung nach heute zum Allgemeinwissen. Und vor allem, dass es nicht ein entweder ökologisches oder soziales oder wirtschaftliches Problem ist, sondern dass wir das Ganze betrachten müssen. Wenn man ein Problem nur einseitig anschaut, dann findet man Lösungen, die möglicherweise andere Probleme verschärfen. Wenn man aber die Zusammenhänge versucht zu verstehen, dann ergeben sich auch Verständnisse für einzelne Phänomene und daraus logische Maßnahmen. Ich glaube man lernt das, indem man mit unterschiedlichsten Leuten inhaltliche Diskussionen darüber führt, was einem wichtig ist und was nicht.

Genetiker

© Michael Mazohl News

Markus Hengstschläger Wir leben in einer Informationsexplosion und wir müssen in der Lage sein, aus diesem Tsunami herauszufiltern. Prinzipiell haben wir uns für zwei Zukünfte zu rüsten: eine vorhersehbare und eine unvorhersehbare. Für die vorhersehbare erzielen wir mit gerichteter Bildung, auch in Form der klassischen Schulbildung, eine recht hohe Trefferquote. Natürlich müssen wir Naturwissenschaft, Mathematik, digitale Bildung unterrichten. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin zu kennen, ist heute unbedingt immer noch sinnvoll. Und eins plus eins wird auch in 20 Jahren noch zwei sein, das ist vorhersehbar und darauf kann ich mich mit gerichteter Bildung, in diesem Fall grundlegender Mathematik, vorbereiten. Aber wenn man es darauf reduziert, würde es bedeuten, dass das reicht. Und das reicht ganz sicher nicht, weil eine Menge unvorhersehbarer Fragen im Leben auftauchen. Auf die unvorhersehbare Zukunft können wir uns also nur mit Kompetenzen vorbereiten, die uns dabei helfen, neue Antworten auf unvorhersehbare Fragen zu finden. Dazu zählen auch Kreativität, Flexibilität, Individualität, Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Wir brauchen nicht hunderttausend Leute, die programmieren können, sondern auch solche, die mit den neuen Programmen neue Ideen entwicklen und Lösungen kreiren. In dem Zusammenhang möchte ich jedem folgende zwei Bücher ans Herz legen: "Factfulness" von Hans Rosling, weil es Klarheit schafft, Fakten liefert und die besondere Weltanschauung der Possibilisten vermittelt vermittelt und "Die vierte industrielle Revolution" von Klaus Schwab, um über die digitale Transformation mitzudiskutieren.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in News Ausgabe Nr. 11/19

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