Warum scheiden wohltut

Arbeitsplatzwechsel, Scheidung, wer plant das schon für seine Zukunft mit ein? Viele leiden unter Versagensangst und bleiben lieber in der Komfortzone, was Berufs-und Liebesleben betrifft. Dabei kann man fast jede Krise als Chance nutzen.

von LIEBES LEBEN - Warum scheiden wohltut © Bild: Nathan Murrell

Ohne Zweifel können Verlusterfahrungen sich tief ins Bewusstsein eingraben. Etwa, wenn man als Kind eine unsichere Bindung zu den Eltern hat oder Bezugspersonen häufig wechseln. Oder Vater und Mutter zwar körperlich anwesend, aber emotional unerreichbar sind. Dieser Mangel führt nicht selten zu einer frühkindlichen Erschütterung, einer Traumatisierung der Seele (griechisch "trauma" für Erschütterung, Wunde). Wenn Eltern das Kind durchwegs wie Luft behandeln und ihm das Gefühl geben, unerwünscht zu sein, können sich nur unter erschwerten Bedingungen ein stabiles Selbstbild und Selbstwertgefühl entwickeln.

Im Erwachsenenalter binden sich davon Betroffene umso stärker an Routinen. Für sie ist es wie der Weltuntergang, wenn ein Jobverlust oder eine Scheidung eintritt, weil, ja weil sie das Ende einer Beziehung - ob nun zur Arbeit oder in einer Partnerschaft - weitaus dramatischer und eher als persönliches Versagen erleben als jene, die nicht unter Bindungsangst und Verlustangst leiden. Richtig gelesen: Die beiden Ängste haben miteinander insofern zu tun, als sie gleichermaßen einer oftmals brüchigen Bindung zu den ersten Bezugspersonen entstammen. Ein lebendes Gegenbeispiel ist der Weststeirer Fritz Walter. Er war als pragmatisierter Beamter abgesichert. Es hätte ewig so weitergehen können: Fritz Walter war verheiratet und hatte einen sicheren Job. Dass es anders kam, lag an einer Art Wunder, dem "Wunder der Resilienz" (lateinisch "resilire" für "abfedern"). Und an seinem kreativen, ja schöpferischen Umgang mit dieser Lebenskrise. Fritz Walter gelang es tatsächlich erst just nach und vielleicht sogar dank seiner Scheidung, seinen lang gehegten, ganz individuellen Traum zu leben. Zunächst mietete er ein kleines Lokal am Franziskanerplatz in der Grazer Altstadt. Ohne Geschäftspartner oder Mitarbeiter stellte sich der vormalige Beamte zunächst selbst hinter die Theke und kredenzte Bier, Wein und italienische Antipasti - spürbar mit der Seele eines italienischen Padrone: der Startschuss zu einem Erfolgskonzept, das aus einem -ja eigentlich krisenhaften -Umbruch im Leben, aber im Grunde ebenso seinem geheimen Lebenstraum entstand.

Man kann tatsächlich sagen: Jede Krise bringt die Chance hervor, sich neu zu erfinden. Gewohnte Routinen hinter sich zu lassen, die Komfortzone aufzugeben und zu riskieren. Wichtig ist die Resilienz, die Fähigkeit, mit der Veränderung konstruktiv umzugehen und sich nicht als Opfer zu verstehen. Mittlerweile ist es ein Vierteljahrhundert her, dass sich der Don-Camillo-Gründer von seinem Beamtenjob verabschiedete, um sein erstes eigenes italienisches Restaurant zu eröffnen. Schon viele Jahre zuvor hatte er die Sehnsucht nach Veränderung verspürt, aber wegen eines angepassten Lebensstils unterdrückt gehabt. Die Perspektive, den Traum zu leben, wurde durch ein ungeplantes "Life Event" - in dem Fall die Scheidung -erst eröffnet. Fritz Walter entschied sich, das Risiko einzugehen und sein altes Leben bei der Landesregierung aufzugeben. Schließlich wurde er von seinem Eid als Beamter enthoben und wagte den Sprung ins kalte Wasser. Sein Beispiel zeigt, dass es nur darum geht, wie man mit einer Krise umgeht. Und ob man sich davon überrollt und "im Wert gemindert" fühlt. Oder nach dem "Jetzt-erst-recht-Prinzip" die Zäsur im Leben nutzt, um ungelebtes Leben auf Schiene zu bringen.

Der Arzt und Anthropologe Viktor von Weizsäcker hat Krisen als Zeiten des Umbruchs und der Veränderung - und nicht als Zeichen des Scheiterns oder der Niederlage - definiert. Es geht darum, eine Scheidung nicht als Ende, sondern konstruktiv als Chance anzugehen. Dann kann auf den Verlust ein befreiender Neustart folgen.