"Arbeitslosigkeit und Armut entmachtet"

Faul, ungebildet, desinteressiert? So das gängige Bild von Arbeitslosen. Und so falsch, sagt Anna Mayr.

Faul, ungebildet, desinteressiert -und Sozialschmarotzer sind sie obendrein: Das Bild, das die Gesellschaft von Arbeitslosen zeichnet, ist bekannt. Und falsch, sagt Autorin Anna Mayr.

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Vorurteile - "Arbeitslosigkeit und Armut entmachtet"

Sie ist Mutter und Unternehmerin. Carmen Christina Jeitler-Cincelli ist aber auch Politikerin -und sie wundert sich. Aktuell über Langzeitarbeitslose in der Hängematte, die hierzulande neuerlich ein bisschen "verwöhnt" werden. Nämlich mit einem 450-Euro-Bonus, den die Regierung zum zweiten Mal ausschütten will. Für Alleinerzieherinnen wäre das ja noch okay, findet die Abgeordnete. Aber für jene, die durch den Geldregen jetzt noch animiert werden, daheim zu bleiben, bringt sie in einem Faceboot-Posting kein Verständnis auf: "Völlig abstrus."

Anna Mayr kennt solche Ansichten: faul, ungebildet, desinteressiert. Selber schuld - als Kind von zwei Langzeitarbeitslosen weiß die Journalistin aber auch, wie falsch solche Vorurteile sind. In ihrem Buch "Die Elenden" gibt sie Arbeitslosen stellvertretend eine Stimme, eine "unpeinliche Stellungnahme für die Unterdrückten"."Wir haben überall auf der Welt Menschen, die die Regeln ausreizen, betrügen. Bei Arbeitslosen ist das ein Narrativ. Bei Steuerhinterziehern ist es okay. Das liegt an der Verachtung für diese Menschen, aus der wir unsere eigene Identität schöpfen", sagt Mayr im Gespräch mit News. Der ein oder andere fühlt sich sogar durch das Buch provoziert. "Die verstehen nicht, warum ich Arbeitslose verteidige. Die, die sich ein Leben lang angestrengt haben, um nicht arbeitslos zu werden. Da merkt man, wie tief diese Verachtung und wie stark die Selbstdefinition über die eigene Leistung und die Arbeit ist."

Ein richtig gutes Leben

Vielen Menschen zumindest ein gewisses Maß an Empathie entgegenzubringen, das gelingt uns ganz gut. Aber eben nicht den Arbeitslosen. Vor allem nicht den Langzeitarbeitslosen. "Das richtige und gute Leben wird in europäischen Gesellschaften weitgehend darüber definiert, dass man arbeitet", sagt Mayr. "Arbeitslose verachten wir, damit wir uns selbst besser fühlen können. Diese Verachtung gibt uns eine gewisse Sicherheit. Menschen, die in den Augen von anderen falsch leben, bringt man keine Empathie entgegen." Und: Es gibt keine Expeditionen in die Welt der Armut. "Wenn man Geld hat, stellt man sich ja nicht in die Schlange vor einem Sozialmarkt. Wir können nicht mal eben ausprobieren, arbeitslos zu sein."

Mayr weiß, was es heißt, in solchen Lebensumständen aufzuwachsen. "Arbeitslosigkeit ist kein 'Schicksal', das ein paar Menschen überraschenderweise widerfährt. Früher dachte ich das. Und es war mir peinlich, dass es ausgerechnet meine Eltern getroffen hat", schreibt sie. Was macht das mit einem, wenn man als "Abfall der Erwerbsgesellschaft" gesehen wird? "Arbeitslosigkeit und Armut entmachten. Sie machen einen zu einem Menschen, der sich nicht selbstbewusst bewegen kann. Armut ist die Abwesenheit von Selbstverständlichkeiten."

Gefühle und Wünsche

Arbeitende und Arbeitslose sind eingespannt in einem Kontext aus Gefühlen, Zwängen und Gewohnheiten, die nur sie kennen, sagt Mayr. "Wenn sich ein Arbeitsloser von den letzten paar Euro auf dem Konto einen Kasten Bier kauft, verdient er dafür das gleiche Verständnis wie die Managerin, die morgens in der Businessclass von Berlin nach München fliegt." Auch der, der gerade nicht arbeitet, ist immer noch eine Person mit Gefühlen und Wünschen, mahnt Mayr. Sie hofft, dass die Corona-Krise das Denken verändern wird -etwa die Erzählung, das Arbeitslosigkeit ein persönliches Versagen ist. "Hinzu kommt: Alle sorgen sich um ihre Position. Diese Sorge ist mächtig. Ich hoffe, dass wir nach Corona klarer sehen, wie sehr uns die Wirtschaft betrifft und wie sehr uns dieses System menschlich prägt."